Matthias Heitmann  Klartext

R – Rückwärtsrennen

- Sydney 2000 – gute Zeiten für Aboriginees


So im Nachhinein wird man ja mal fragen dürfen. Was wäre geschehen, wenn Cathy Freeman keine Goldmedaille in Sydney geholt hätte? Hätte man ihr rückwirkend die olympische Fackel aberkannt und Ian Thorpe nachträglich zum Zündhölzchen erklärt? Was wäre aus den 260.000 Aborigines geworden? Wären sie wieder zu einer unterdrückten Minderheit degradiert worden, ohne Jobs und ohne Zukunft?


Zum Glück ist es nicht soweit gekommen. Obwohl sich die Fachwelt, und zu der gehöre ich ja als investigativer Reporter, auch weiterhin fragt, warum die Französin Marie-José Perec, Freemans größte Rivalin auf der 400-Meter-Strecke, in Weltrekordzeit Sydney verließ, ohne überhaupt angetreten zu sein. Aber Spekulationen darüber, dass sich Perec durch ihren Verzicht auf Kosten des australischen Leichtathletikverbandes gesund gestoßen habe, sind unangebracht. Vielleicht war ihr einfach nur bewusst, was geschehen wäre, wenn sie der kleinen Aboriginiee-Frau auf der Bahn entfleucht wäre. Vielleicht war ihr auch bewusst, dass gegen Freemans National-Doping kein noch so verbotenes Kraut gewachsen gewesen wäre. Schließlich lief die kleine Frau um ihr Leben. „Ich habe einfach nur versucht, ich selbst zu bleiben“, sagte sie nach dem Lauf, der die 200jährige Unterdrückungsgeschichte ihrer Volksgenossen auf einen Schlag beenden sollte.


So im Nachhinein sind natürlich auch wir Experten immer schlauer. Führt man sich vor Augen, welchen Einfluss Freemans 400 Meter auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Aborignees haben, sind die Konsequenzen, die eine Teilnahme Joschka Fischers am olympischen Marathon hätte nach sich ziehen können, nur schemenhaft vorstellbar. Am Ende seines Laufes in die israelische Nationalflagge heulend, hätte er Welten bewegt und den Planeten zur globalen Rührung getrieben.


Dass die olympische Bewegung ein Herz für die Schwachen und Unterdrückten dieser Welt hat, wissen wir ohnehin längst. „Dabeisein ist alles“, lautet dementsprechend der Slogan, der mit seiner unerträglichen Penetranz in allen Kanälen die weltweite Gleichheit aller Menschen, und wenn sie noch so langsam schwimmen mögen, beschwört. Aguida Amaral, einem der vier „individuellen Teilnehmer“ aus Ost-Timor, wurden vom Internationalen Olympischen Komitee sogar Schuhe zur Verfügung gestellt, um nicht barfuss die 42kilometerlange Strecke in die nationale Unabhängigkeit gehen zu müssen. Schön und gut.


Für die Aussöhnung Australiens hätte ein Dabeisein von Cathy Freeman hingegen nicht ausgereicht. Auch für Deutschland reicht das nicht. Sollte uns das nicht zu Denken geben und uns dazu veranlassen, unser ewiges Erfolgsstreben endlich zu Grabe tragen? Nicht wirklich. Mit dem Dabeisein ist nur zufrieden, wer ohnehin nicht „mittendrin“ sein kann. Wer dem Dabeisein huldigt, der muss Franziska van Almsiek als Nationalheldin feiern, Erich Ribbeck als Bundestrainer behalten und Rudolf Scharping als Lichtgestalt der deutschen Politik betrachten.


(Novo49, November 2000)