Matthias Heitmann  Klartext

U – Unrasierte-Unterschenkel-Feinde Unterfranken e.V.

- Der Selbsthilfeterror


Als rasender Klatschreporter muss man auch da hingehen, wo es weh tut. Von diesem masochistisch-aufklärerischen Motto beseelt zog ich los und stellte mich der niederschmetternden Welt der deutschen Selbsthilfegruppen-Kultur. Als „Tag der offenen Tür“ getarnt, warben zahlreiche Selbsthilfegruppen im Foyer des Rathauses um neue Mitopfer.


Kaum den Saal betreten, wurde ich schon angesprochen, nach welchem Infotisch ich denn suchen würde und mit welchem Problem ich denn zu kämpfen habe. „Ach, wissen Sie,“ setzte ich an, verstummte aber, als ich den glühend-gelb blinkenden Button an der Jacke meiner Gesprächspartnerin erblickte: „Selbsthilfegruppe für Menschen, die mit ihrem zerstörerischen Denken und Handeln sich und anderen gegenüber aufhören wollen“. „...eigentlich geht es mir noch ganz gut,“ stammelte ich, wurde aber sofort unterbrochen. „Das ging mir auch lange so“, beruhigte mich die Dame, „bis ich plötzlich gemerkt habe, wie destruktiv ich eigentlich bislang gelebt habe“. Und schon ergoß sich ein wildfremder Lebenslauf über mir, geprägt von Schule, Ausbildung, Beruf, Familie, eigentlich nichts weltbewegend Tragisches, sondern eher klassisch bürgerlich, dennoch sei dann vor zweieinhalb Jahren die Wende zum Besseren gekommen.


„Nehmen Sie unseren Merkzettel mit und studieren Sie ihn, vielleicht treffen wir uns ja bald wieder.“ Das klang fast wie eine Drohung. Im Inneren der Broschüre fand ich eine Liste von Fragen, deren Beantwortung mit „ja“ mich zu einem Beitrittskandidaten machen sollte. „Kennst du den Zustand, neben Dir zu stehen, Dir zuzuschauen und das Gefühl zu haben, unwirklich zu sein?“ „Überfällt Dich oft die Angst, auseinanderzufallen, Dich aufzulösen oder zu erstarren?“ Skeptisch betrachtete ich mein Spiegelbild im Fenster des Foyers. „Hörst und siehst Du manchmal Dinge, von denen Du eigentlich weißt, das sie so nicht sein können?“ Betreten schaute ich mich um. „Verletzt Du Dich selber durch Brennen, Schneiden, Zerkratzen der Haut, Kopf-gegen-die-Wand-Schlagen oder ähnliches?“


Nun wurde es mir zuviel, und ich begab mich auf die Suche nach einer Cafeteria. Die gab es nicht, aber eine weitere freundliche Dame stattete mich auf meiner Suche nach einer Bar mit einem weiteren Zettel aus. „Bevor Du den ersten Bissen nimmst“ hieß das Blättchen der Anonymen Esssüchtigen in Genesung. Mein Magen rumorte. „Egal wie Du Dich fühlst, Du musst nicht essen. Sag Dir selbst, dass Du morgen essen kannst, wenn Du willst, aber nicht heute!“ Langsam wurde mir klar, wie das funktioniert mit der Selbsthilfe. Wer meint, keine zu brauchen, lebt nicht bewusst. Mein Unwohlsein steigerte sich und wurde mit einem weiteren Flugblatt belohnt „Angst? Panikattacken? Depressionen? Was würden Sie dagegen tun?“ Mit meiner Traumfrau den Abend verbringen und mich trösten lassen, fuhr es mir beim Weiterschlendern durch den Kopf. Dazu brauche ich doch keine Notrufnummer!


Es ging mir besser, allerdings nur zwei Stände lang. Ein freundlicher Herr trat zu mir und fragte mich, ob ich mich für die Selbsthilfegruppe der Sex- und Liebessüchtigen interessieren würde. Sind wir das denn nicht alle, fragte ich ihn schüchtern, aber nicht ganz ernsthaft. Richtig, antwortete der Herr, wir glauben, dass Sex- und Liebessucht eine fortschreitende Krankheit ist, die nicht geheilt werden kann. Ich brachte nur noch ein kratziges „Aha“ heraus und stopfte einen weiteren Informationszettel zittrig in meine Tasche.


Am Ende des Ganges standen die Anonymen Alkoholiker. Ich war fast erleichtert, Menschen mit einem realen Problem anzutreffen, obwohl ich gerade jetzt schon ein Bier hätte vertragen können. Gleichzeitig wurde mir schlagartig klar, wie leicht es ist, zu einem Mitglied dieser Zielgruppe zu werden. Noch zwei weitere „Tage der offenen Tür“, schwor ich mir, und Du meldest Dich hier an.


Am Ausgang wartete jedoch noch ein weiteres Faszinosum: Die „Selbsthilfeinitiative drangsalierter Schwiegertöchter“. Erstaunt las ich auch dieses Flugblatt. „Es ist mir klar“, stand hier geschrieben, „dass nicht alle Schwieger-„Mütter-Väter“ querulierende, drangsalierende Teufel sind, denen es Freude macht, die Frau ihres Sohnes zur „dummen Gans“ zu erklären, aber ich finde, dieses Problem muss endlich öffentlich gemacht werden, aus der „Niedlichkeit“ herausgeholt werden. Diese Tyrannei und Menschenverachtung darf nicht auch noch unterstützt werden!“ Nun fehlten mir die Worte. Besonders erstaunlich war aber die Freundlichkeit der Dame hinter dem Infotisch. Offensichtlich war ich keine drangsalierte Schwiegertochter, sondern rein äußerlich betrachtet eher ein heranwachsender Vertreter der Tätergruppe. Dieser leidliche Umstand tat dem Aktivismus der Lady aber keinen Abbruch: „Nehmen Sie ruhig mehrere Zettel mit und verteilen Sie sie an Menschen, die interessiert sein könnten!“ Wer aber sollte dies sein?


In der Nacht schlief ich schlecht. Ich wurde von Vertreterinnen der Selbsthilfegruppe gegen Unrasierte-Unterschenkel in Unterfranken, mit Rasierapparaten bewaffnet, durch die Straßen gehetzt. Als ich schweißgebadet aufwachte, durchstöberte ich sofort die zahlreichen Zettel in meiner Tasche. Ich fand die Liebessüchtigen, die drangsalierten Schwiegertöchter, die Chemikaliengeschädigten, die Menschen, die aufhören wollten, zerstörerisch zu denken und zu handeln, die Headbanger und die Vielfräße. Die unterfränkischen Unrasierte-Unterschenkel-Feinde fand ich nicht. Hatte ich den Zettel auf der Flucht verloren, oder existierten sie am Ende überhaupt nicht?


Ich war verwirrt, schloß ängstlich das Fenster, ging zum Kühlschrank, aß und trank willenlos und kehrte zurück ins Bett, aber nicht, vorher unter demselben nachgesehen zu haben. Den Morgen begann ich mit einem Schnaps und vielen Zigaretten. Und mit einem Vorsatz: Ich gründe eine Selbsthilfegruppe gegen den Terror der Selbsthilfekultur!


(Novo53, Juli 2001)