Matthias Heitmann  Klartext

V – Verkehr(t)!

- Wie die StVO Erwachsene entmündigt


Sie kennen das Feeling: Sie stehen morgens tief schlafend an der roten Fußgängerampel. Mit dem ersten scheuen Blick peilen Sie die Verkehrsdichte und wollen gerade die rote Ampel ignorieren und die Straße überqueren, als Ihnen dieses unsägliche Schild in die noch von Schlaf verkrusteten Augen fällt: „Nur bei GRÜN – der Kinder wegen!“ Und ohne dass Sie es wollen, bleiben Sie am Straßenrand stehen. Denn neben Ihnen hat sich fast unbemerkt ein lästiger ABC-Schütze herangemeiert und eine alte Dame zum lauten Aussprechen des schlimmsten Satzes auf Erden veranlasst, den man morgens um halb Acht zu ertragen imstande ist: „Die Ampel ist rot, mein Herr!“ dringt in Ihr Ohr, um gleich den nächsten Schlag ins Trommelfell anzukündigen: „Wenn das jeder machen würde...!“


Den Kopf nach rechts zur Oma zu drehen, dauert um die Uhrzeit eine Weile, glücklicherweise weist Ihr Gesicht noch die morgendlich verschlafenen und entsprechend unfreundlichen Züge auf, verfehlt also seine Wirkung nicht. Doch ehe Sie den Blick wieder auf die Straße richten, hat doch der kleine Scout-Racker bereits die Hälfte der Straße passiert, unbeschadet, trotz roter Ampel! Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen vier weitere Schulranzen mit Beinen und johlen ihre laute Überdrehtheit in den diesigen Morgenhimmel. Und Sie stehen am Straßenrand und fühlen sich wie ein Trottel: von wildfremden Ömchen öffentlich zurechtgewiesen und von kleinen Rotznasen im Straßenverkehr vorgeführt.


„Nur bei GRÜN – der Kinder wegen!“ Normalerweise ärgert man sich einfach über Schilder dieser Art, doch neulich blieb ich einfach am Straßenrand stehen und dachte über die Bedeutung dieses Satzes nach. Seit Jahren schon trieb er mir die Zornesröte ins Gesicht, dieser moralische Angriff auf meinen Pünktlichkeitswahn und meine Fähigkeit, Entfernungen, Geschwindigkeiten und Gefahren selbst abschätzen zu können. Dieses Mal aber nahm ich mir die Zeit und analysierte den Satz. Seitdem geht es mir beim Ignorieren des Schildes besser, denn ich fand Folgendes heraus:


Zunächst einmal fehlt der Aufforderung das Verb. Was soll man „nur bei GRÜN – der Kinder wegen!“? In der Nase bohren, Bier trinken, Freunde beschimpfen? Es bleibt wohl dem Leser überlassen, was er „nur bei GRÜN“ tun oder lassen „soll“.


Auch darüber hinaus bleibt der Satz kryptisch. Es geht um etwas, was eigentlich immer „nur bei GRÜN“ geschehen sollte. Der Verantwortliche für Verkehrsschilder weiß aber, dass „es“ im Normalfall nicht „nur bei GRÜN“ geschieht. Da das Nichtbefolgen dieser Regel ihn stört, aber offensichtlich nicht geahndet wird oder das drohende Strafmaß die Menschen nicht abschreckt, versucht es der Schildermacher nun auf die moralische Tour, indem er uns Erwachsene an unsere soziale Vorbildfunktion gegenüber Kindern erinnert. Eigentlich hätte er auch auf das Schild schreiben können: „Ich weiß, dass Sie im Allgemeinen die Ampel ignorieren, aber dennoch will ich, dass Sie sie beachten, auch wenn ich nicht überzeugend erklären kann, warum.“


Ich kenne viele, die freiwillig an einer roten Fußgängerampel stehen bleiben, obwohl sich weder Fußgänger noch Autos am Horizont abzeichnen. Die Frage ist nun: Warum? Ich kenne schließlich auch viele Frauen, die den Aufkleber „Ich bremse auch für Männer!“ spazieren fahren, ohne sich dran zu halten. Man würde es ja auch nicht erwarten.


Aber zurück zur Straßenverkehrsordnung: Ist es nun grundsätzlich falsch, „auch bei Rot – weil ich alt genug bin und es eilig hab’!“ eine Straße zu überqueren, wenn man sich vorher davon überzeugt hat, dass alle anwesenden Kindern entweder in Kinderwägen angeschnallt sind oder gerade zu fremden Männern ins Auto steigen? Denn auch diese Lesart lässt das Schild zu: So gesehen bedeutet die Aufschrift nämlich, dass man nur und ausschließlich der Kinder wegen „bei GRÜN“ „solle“. „GRÜN“ oder ROT“ hätten dann eigentlich nur für Kinder Relevanz. Dann frage ich mich aber: Warum schreibt man nicht einfach auf das Schild drauf, dass Kinder „nur bei GRÜN“ „sollen“?


Eine weitere Frage sei erlaubt: Warum sollen Erwachsene ihr Verhalten danach orientieren, ob es für Kinder geeignet ist? Dies würde ja bedeuten, dass der Schildermacher morgen schon am Zigarettenautomat neue Schilder anbringen könnte mit der Aufschrift „Nur ohne – der Kinder wegen!“ Dann würden Erwachsene nur noch filterlose Zigaretten kaufen, weil Kinder nicht rauchen sollen. Man stelle sich vor, derselbe Schildermacher würde ein solches Schild versehentlich an Kondomautomaten anbringen...


Letztlich ist also auch diese Interpretation nicht einzusehen: Warum soll ich als umsichtiger Erwachsener nicht die Straße überqueren dürfen, nur weil unvorsichtige Kinder überfahren werden könnten? Ich dachte bisher immer, als Erwachsener dürfe man mehr als ein Minderjähriger.


Deswegen habe ich mich entschieden, das Schild „Nur bei GRÜN – der Kinder wegen!“ künftig nicht mehr zu beachten, da es Erwachsene diskriminiert und ihnen die Fähigkeit abspricht, Gefahren selbst abzuschätzen, bewusst einzugehen und die Verantwortung dafür zu tragen. Kinder können das nicht, deshalb sollten sie warten, bis die Ampel GRÜN wird.


Natürlich haben Erwachsene eine Vorbildfunktion gegenüber Minderjährigen. Das bedeutet aber mitnichten, dass mündige Erwachsene sich wie Kinder zu verhalten haben. Wenn ein Kind im Begriff ist, vor ein Auto zu laufen, werde ich es aufzuhalten versuchen, auch wenn ich mich als Mann eventuell dem Vorwurf aussetze, ich hätte nur die Gelegenheit ausnutzen wollen, ein fremdes Kind anzusprechen und zu betatschen. Aber man muss eben Risiken eingehen, wenn man sozial verantwortlich handeln will. Ein Gefühl sozialer Verantwortung kann man aber nicht über die Straßenverkehrsordnung herstellen. Und schon gar nicht über Hiebe mit der moralischen Keule.


Im Interesse des Schildermachers plädiere ich für die Neubeschriftung der Schilder, etwa so: „Kinder nur bei GRÜN“ oder „Überqueren erlaubt“. Laut Grundgesetz genießen schließlich auch „alle“ Menschen Bewegungsfreiheit, obwohl ja offensichtlich Kinder, Gefängnisinsassen und Bundeswehrsoldaten nicht gemeint sind. Dreh- und Angelpunkt der Welt sind immer noch die normalen Erwachsenen. Oder stellen Sie sich vor, demnächst würden Wahlen verboten – „denn Kinder dürfen ja auch nicht!“


(Novo54, September 2001)