Matthias Heitmann  Klartext

Z – Zeit zu gehen

- Das Ende (k)einer Ära


Wir schreiben das Jahr 2002. Aufbruchstimmung herrscht in Deutschland. Ich möchte sogar sagen: Ein „Ruck“ geht durchs Land. Ich weiß, was Sie denken. Träumt er? Hat er endgültig den Verstand verloren? Von welchem Land spricht er? Aber keine Sorge, „Aufbruchstimmung“ wird heutzutage anders definiert. Man könnte ebenso gut „Abbruchstimmung“ sagen, oder schlichtweg: Schwund.


Und in der Tat, der Schwund der letzten Wochen und Monate war beeindruckend: Erst ging der (Ron) Sommer zu Ende, dann der Bin-Baden-Scharping, dann Quasi-Stasi-Und-Tschüssi-Gysi; in Köln hat trotz aller clement-inenhaften Reinigungsversuche eine ganze Partei Insolvenz angemeldet, und der rot-grüne Kanzler erreicht das Datum, ab dem er nur noch im Kühlschrank der Geschichte – Fachterminus: Mausoleum – gelagert werden sollte. Man glaubt es kaum, dass in diesem personalisierten und gleichzeitig persönlichkeitsfreien und kopflosen Politgefüge überhaupt noch Köpfe h(er)unzingern, um deren Hals (oder Schlauch) sich Schlingen zusammenziehen könnten; Köpfe, die wir einmal vermissen werden, aus welchen Gründen auch immer.


Derweil stoibert schon der nächste Schröder am Kanzleramtszaun. Doch man fragt sich: Wie viele Schröders, ob getönt oder nicht, verträgt das Wahlvolk? Und: Sollten wir uns wirklich auf eine Außen-, Innen-, Oben- oder Untenministerin Merkel freuen? Wechselfieber kann angesichts der anstehenden Guidoisierung der Politik nicht aufkommen. Wer glaubt, es werde sich nach dem 22. September ausgeFischert haben und rot-grüne Politik werde ausgeMerzt, wird sich gewaltig irren. Der „Ruck“, den einige befürchten, andere erhoffen, wird eine laue Westerwelle, die keine Becksteine ins Rollen bringen, sondern nur Späthentwickler und jede Menge Sonder-Mölle ins Reste-Rampenlicht rückt. Schill-lerndes ist da nicht zu erwarten.


Stattdessen droht ein eigentümliches Szenario. Wir werden Situationen erleben, in denen wir uns im Berliner Demokraten-Discounter irritiert umsehen und voller Wehmut an Zeiten zurückdenken, in denen rot-grüne Politik noch eindeutig am rot-grünen Etikett zu erkennen war. Denn das Bedauerliche am bevorstehenden Wechsel ist: Er wird ausbleiben, egal wie die Wahl ausgeht. Am 22. September ist es für einige an der Zeit, zu gehen. Die Frage ist nur, ob sie nicht gleich von denen, die ihnen nachfolgen, begleitet werden sollten.


Wenden wir uns also den tatsächlichen epochalen Einschnitten zu: Novo ist mit seiner 60. Ausgabe seinen Kinderschuhe entwachsen und wird demnächst ein „Teen“. Der Focus ist genauso alt. Merken Sie den Unterschied? Während die einen sich von Anfang an daran machten, aufrecht zu gehen, kriechen die anderen windschnittig weiter auf dem Weg zum perfekten Politik-Verbraucher-Magazin. Es gilt das (Mark-)Wort: Wer den Kopf nicht hebt, kennt weder Frischluft noch Gegenwind.


Und noch etwas geht zu Ende: Sie haben die 26. und letzte Seite dieses Politischen Wörterbuches aufgeschlagen. Bevor Sie aber in Tränen ausbrechen und befürchten, es werde ab jetzt nichts mehr so sein, wie es war: Als rasender Reporter wird Ihnen Schwerhöribert Fastblinder erhalten bleiben. Wenngleich sein ureigenstes Ziel, nämlich, während seiner mehr als vierjährigen Regentschaft über das Novo-Glossenreich den endgültigen Abgang von Obersportfaseler Heribert Fastbinder bejubeln zu dürfen, nicht erreicht wurde.


Seit wann das Nicht-Erreichen von Zielen Grund zum Abschied ist, fragen Sie? Nun ja, eigentlich haben Sie Recht...


Ihr Schwerhöribert Fastblinder


(Novo60, September 2002)