Matthias Heitmann  Klartext

"Sind wir alle Hooligans?"

Die Antwortet lautet: Nein! Und deshalb sollten wir uns von Politikern und Hooligans weder Fußball noch Freiheit vermiesen lassen.



Das Auftreten deutscher Hooligans bei der Fußballweltmeisterschaft und insbesondere der Angriff auf den 44jährigen französischen Gendarm in Lens löste Entsetzen aus. Politiker forderten richterliche Schnellverfahren und harte Strafen für Randalierer, beschworen die aufkeimende Gefahr der “Hooligan-Bewegung” in Deutschland und führten die erst kürzlich abgeschafften Grenzkontrollen an der deutsch-französischen Grenze wieder ein. Es wurde kurzzeitig erwogen, das deutsche Team von der Weltmeisterschaft zurückzuziehen.


Bei aller Ablehnung der sinnlosen Gewaltexzesse bleibt festzuhalten: Die erhitzte öffentliche Debatte über Hooligans in Deutschland wurde dem Vorfall in Lens nicht gerecht. Zwar gibt es in Deutschland seit Jahren eine Hooligan-Szene. Bei genauerer Betrachtung wird aber deutlich, daß diese Szene keinen Zulauf, sondern vielmehr Nachwuchsprobleme hat. Seit Jahren hat es in der Bundesliga keine großen Probleme mehr mit Ausschreitungen von Hooligans gegeben. Wer in den vergangenen Monaten Spiele in der ersten und zweiten Bundesliga besuchte, wird wissen, warum das so ist: Er wird sich an die massiven Sicherheitskontrollen sowie die große Präsenz berittener und schwer bewaffneter Polizei rund um die Stadien erinnern. Die perfekt ausgeklügelte Videoüberwachung der einschlägigen Zuschauerblocks tut ihr Übriges. Die Ruhe in den Stadien hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass einige Bundesligaklubs die in den 80er Jahren verstärkten Sicherheitszäune in den Stadien nun wieder abbauen wollen.


Die Überwachungs- und Sicherheitsmaßnahmen im Umfeld von Bundesligaspielen sind derart strikt, dass gewaltbereite Hooligans sich immer mehr vom großen Fußball abwenden. Statt dessen weichen sie mittlerweile in das Umfeld unterklassiger Spiele in Amateurligen mit entsprechend geringer Polizeipräsenz aus. Ein ungenügender Ersatz; denn diese “Verabredungen zur Prügelei” finden weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Auftritte bei internationalen Turnieren bieten deshalb die Möglichkeit, überhaupt noch von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.


Mit Ausnahme der Weltmeisterschaft von 1994 in den USA waren deutsche Hooligans regelmäßig präsent. Rund 200 reisten bei der Europameisterschaft 1996 durch England. Im Herbst des gleichen Jahres füllten sie nach einem Länderspiel in Polen mit rechtsradikalen Parolen schon einmal die Schlagzeilen, und auch zuvor: Europameisterschaft 1992 im eigenen Land, Länderspiele 1994 in Rotterdam, 1991 in Brüssel, 1990 in Luxemburg – die Liste unrühmlicher Auftritte deutscher Fans ließe sich problemlos bis zur Weltmeisterschaft 1990 in Italien zurückverfolgen. Die Auftritte deutscher Randalierer im Ausland sind jedoch eher ein Indiz dafür, dass Deutschland kein gutes Pflaster für Hooligans ist.


Die enge Zusammenarbeit zahlreicher Fanprojekte und Fanclubs mit der Polizei zielt seit Jahren darauf ab, den Hools das Wasser abzugraben sowie Spitzel in die einschlägigen Fanszenen einzuschleusen. Der Einfluss der Fanprojekte ist in den letzten Jahren gestiegen. Seit 1992 arbeiten sie mit den Strafverfolgungsbehörden, Sozialarbeitern und Streetworkern im “Nationalen Konzept Sport und Sicherheit” zusammen. Der Deutsche Fußballbund (DFB), die Vereine, die Gemeinden, der Städtetag, die Innenminister, Jugend- und Sportministerkonferenzen sowie das Bundesinnenministerium setzen seit Jahren auf die Arbeit der Fanprojekte. In den alten Hooligan-Hochburgen Berlin, Hamburg und Frankfurt – so wird heute resümiert – hat sich die Situation beruhigt.


Die jüngsten Krawalle in Lens, wo neben Hooligans auch “Normalos” gewalttätig wurden, sind ebenfalls kein Beleg dafür, dass sich die “Hooligan-Bewegung” im Aufwind befindet. Daß mittelständische Unternehmer, Handyträger und Familienväter in ihrer Freizeit zu Randalierern werden, zeigt eher, daß nicht die Hooligans, sondern gesellschaftliche Verwirrung und Entsolidarisierung zunehmen und eine neue Qualität erreichen.


Für Sportjournalisten, Funktionäre und Sportler waren die Ausschreitungen schockierend. Die Reaktionen und öffentlichen Diskussionen, die dem Ereignis folgten, brachten aber mehr zum Ausdruck als nur Wut und Entsetzen über die Gewalt von vereinzelten Hooligans. Es zeigte sich, dass Fußball und alles, was drumherum geschieht, in den letzten Jahren beträchtlich an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen hat. In einer Zeit, in der es kaum noch Loyalitäten zu gesellschaftlichen Interessengruppen, Regierungen und Parteien gibt, sind sportliche Erfolge nicht selten die einzigen positiven Ereignisse, die noch Anlaß für Identifikation und Zusammengehörigkeitsgefühl bieten.


Der Zuschauerboom beim Fußball in den 90er Jahren offenbart die Suche vieler Menschen nach positiven Gemeinschaftserlebnissen. In Medien und Werbung wird diese Entwicklung aufgegriffen. Was früher verächtlich als Männerdomäne belächelt wurde, wird heute zum Fest für die ganze Familie.


Allenthalben unterstreichen Politiker wie Sportfunktionäre den völkerverständigenden Gehalt des Fußballsports. Oftmals wird die Hauptaufgabe der deutschen Balltreter darin gesehen, als Fair-Play-Botschafter des friedlichen und toleranten Deutschland einen guten Eindruck zu hinterlassen. Auch die strenge Regelauslegung, die die Weltmeisterschaft 1998 charakterisierte, trägt dieser gesellschaftspolitischen Rolle des Fußballs Rechnung. Die Vorbildfunktion, die Sportlern heute zugewiesen wird, verbietet geradezu ein kampf- und körperbetontes Spiel, ganz zu schweigen von der Grätsche. Die Flut von Platzverweisen und Verwarnungen zeigte: Der Fußball wird “gesellschaftsfähig” zurechtgestutzt. Die Auftritte randalierender Deutscher zerstören diese Funktion des Fußballs.


Die Politiker haben erkannt, dass die Weltmeisterschaft im Wahlkampfsommer 1998 eine Plattform bot, auf der man sich Gehör verschaffen konnte. Unter dem Eindruck der Ausschreitungen forderten Vertreter aller Parteien sofort harte Strafen und bessere Prävention, um das Image des “neuen Deutschland” zukünftig besser vor dem “deutschen Mob” schützen zu können. Das Vorgehen der Franzosen, die binnen weniger Stunden fragwürdige Eilverfahren organisierten und Angeklagte zu Freiheitsstrafen verurteilten oder des Landes verwiesen, wurde als vorbildhaft diskutiert. Bundesinnenminister Manfred Kanther forderte, die Deutschen müssten “von den Franzosen lernen” und alles tun, was die Gewalt unterdrücke. Was man alles bereit war zu tun, zeigte sich schon zwei Tage nach den Ausschreitungen in Lens: Hunderte von BGS-Beamten säumten die deutsch-französische Grenze und durchkämmten Fernzüge nach potentiellen Gewalttätern. An den Grenzübergängen wurden Pkws und Busse, in denen sich mehrere Männer zwischen 20 und 30 Jahren befanden, angehalten und durchsucht.


In liberalen Kreisen waren die Reaktionen auf die Ausschreitungen von noch tieferer Entrüstung und Ablehnung geprägt. Mit dem Verweis auf die Gewaltbereitschaft der Menschen wurden bürgerliche Freiheiten wie das Recht auf Freizügigkeit in Frage gestellt und angezweifelt, ob die Menschen überhaupt mit diesen Freiheiten umzugehen in der Lage seien. So wurde die Abschaffung der innereuropäischen Grenzkontrollen kritisiert und beklagt, daß die Kontrolle von unzurechnungsfähigen Randalierern und Hooligans unmöglich sei. Der Leiter der DFB-Delegation, Franz Böhmert, äußerte Zweifel wie sie viele hegten:


“Wir wissen, dass eine Vorbeugehaft nicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar ist. Es stellt sich aber die Frage, ob der Rechtsschutz für 600 Chaoten oder für ein friedliches Fest im Stadion größer sein muss.” (Frankfurter Rundschau, 23.6.98)


Die Wochenzeitung Die Zeit richtete ihren Blick nicht nur auf die 600 Chaoten, sondern auf die Gemütslage des ganzen deutschen Volkes. So sei eine “Enthemmung” der Gesellschaft zu diagnostizieren und Gewalt würde zutage gefördert. “Sie steckt drin im Menschen, ist taub für Appelle an die Moral, und manchmal bricht sie aus”, war zu lesen, und nur beim Fußball könne so offen “der Kampf, der Kampf, der Zweikampf beschworen werden. Selbst Berti Vogts tut das, das Wort Aggressivität zählt zu seinen liebsten” (25.6.98). In der taz war zu lesen, die deutsche Bevölkerung solle “kollektiv Verantwortung übernehmen”. Aus pädagogischen Gründen wurde hier der Rückzug der deutschen Elf gefordert:


“80 Millionen Menschen werden womöglich nicht mehr wegschauen. Nach Hause mit ihnen, und dann lasst uns sehen, ob sich dies noch einmal einer traut.” (23.6.98)


Anscheinend ist heutzutage jeder Anlass willkommen, die Einschränkung von Freiheiten und Rechten einzufordern. Dass intellektuelle Moralapostel und Politiker nicht einmal davor zurückzuschrecken, Vorfälle wie in Lens zu nutzen, um kurzerhand die ganze Gesellschaft zu einer Ansammlung unzurechnungsfähiger Menschen und potentieller Gewalttäter und Hooligans zu erklären, offenbart eine Geisteshaltung, die wenig Gutes erahnen lässt.



Novo35, Juli/August 1998