Matthias Heitmann  Klartext

"Leistungssport will gar nicht gesund sein!" (7/2004)

„Höher, schneller, weiter“ – dieses Motto des Hochleistungssports bringt uns dazu, Menschen beim Laufen, Springen, Schwimmen, Werfen oder Radfahren zuzusehen. Ob bei der Fußball-Europameisterschaft, der Tour de France oder nun bei Olympia: wir dürsten nach fantastischen Leistungen und nach dem Adrenalinschub, der sich auf uns überträgt, wenn die „eigene“ Mannschaft oder der Lieblingssportler gewinnt. Warum wir das tun? Weil wir uns mit dem Leistungsstreben von Sportlern identifizieren und selbst gerne den „Kick“ genießen, der sich einstellt, wenn wir Außergewöhnliches leisten, den eigenen Schweinehund überwinden und dazu in der Lage sind, eine eigene Marke zu setzen.


Dieses Streben nach etwas Besserem, nach der eigenen Weiterentwicklung und Verbesserung brachte schon unsere Vorfahren vor Urzeiten dazu, den aufrechten Gang zu erlernen – obwohl ihr Körperbau dafür eigentlich nicht geeignet war. Bis heute ist der Impuls, die eigenen Grenzen zu testen und zu überwinden, eine der entscheidenden Triebkräfte der Menschheit. Er macht uns überhaupt erst zu Menschen.


Mit dem engen, sich rein auf den biologischen Zustand unseres Körpers beziehenden Verständnis von „Gesundheit“ hat das „An-die-Grenzen-gehen“ nichts zu tun. Auch wenn der Anblick durchtrainierter Athletenkörper uns „Gesundheit“ vorgaukelt – Leistungssport wird weder aus gesundheitlichen Gründen betrieben, noch ist er „gesund“. Anders formuliert: Hochleistungssportlern als Vorbild für die eigene körperliche Ertüchtigung zu huldigen, ist potenziell gesundheitsschädlich. Ihnen ist bewusst, dass sie Raubbau an ihrem Körper betreiben. Statistisch gesehen erreichen sie nur selten den Altersdurchschnitt der Bevölkerung. Wenn man versucht, das Beste zu geben, sich selbst und andere und sogar Rekordmarken zu schlagen, dann kann man dabei nicht auch auf die Gesundheit achten. Der Leistungssportler, der es doch tut, hat schon verloren.


Hochleistungssport ist auch nicht „natürlich“. Er bildet auf sehr einseitige Art und Weise physische Qualitäten aus, die sich wiederum in einer „unnatürlichen“ Ausformung des menschlichen Körpers niederschlagen. Damit körperliche Höchstleistungen erzielt werden, wurde schon immer mit künstlichen Mitteln nachgeholfen – seien es Neoprenanzüge, isotonische Getränke, Räder aus Karbon, die Kreide am Barren oder einfach die Tatsache, dass wir Menschen die Möglichkeit einräumen, ihren Lebensunterhalt mit Sporttreiben zu bestreiten.


Sie gehen dieses Risiko wissentlich ein und „investieren“ freiwillig ihren Körper. Genau dieser Umstand macht auch die Doping-Debatte so kompliziert. Beginnt Doping schon bei der Bereitstellung von Energy-Cocktails oder von windschnittigen Fahrrädern? Ist es Doping, wenn Sportler in wenigen Wochen Verletzungen auskurieren, an denen Otto-Normal-Verbraucher monatelang laborieren?


Das Argument jedenfalls, Doping sei „unnatürlich“ und deswegen moralisch verwerflich, hilft in Bezug auf den Leistungssport, der insgesamt ein Kunstprodukt menschlicher Zivilisation ist, nicht weiter. Moralische Grundsatzentscheidungen darüber, was Doping ist und was nicht, sind daher immer problematisch. Die Schwierigkeiten zeigen sich immer dann, wenn ein Sportler einmal ein Hustenmittel einnimmt, dessen Inhaltsstoffe auf der „Doping-Liste“ stehen.


Wenn Jugendliche zum Muskelaufbau mehr oder weniger dubiose und zum Teil gefährliche Präparate einnehmen, liegt dem ein falsch verstandenes Leistungsstreben zugrunde. Zum einen gehen sie davon aus, dass Kraft mit Leistung gleichzusetzen ist – ein Missverständnis, das sich leicht ausräumen lässt, wenn man einen unbeweglichen Muskelprotz auf eine Marathonstrecke oder in den Boxring schickt. Zum anderen aber – und dies ist das schwerer wiegende Problem – sind sie sich häufig über die Risiken, die sie eingehen, nicht bewusst.


Hier besteht sicherlich Aufklärungsbedarf, jedoch nicht nur über die Beschaffenheit von Präparaten. Die Bereitschaft, mit dubiosen Mittelchen den eigenen Körper nach bestimmten Normen zu formen, hängt mit der weitverbreiteten Ansicht zusammen, dass die Fähigkeit zu körperlichen Höchstleistungen mit körperlicher Gesundheit gleichzusetzen ist. Solange Leistungssportler in der gesellschaftlichen Wahrnehmung als „Gesundheitsvorbilder“ gelten, werden Menschen ihnen nacheifern, ohne nach den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken zu fragen.


Das Hauptproblem ist also nicht die Verfügbarkeit von „Doping für Jedermann“, sondern der weit verbreitete Glaube daran, dass derjenige am „besten“ oder „gesündesten“ ist, der die größte körperliche Leistung bringt. Kurz gesagt: Ginge es Michael Ballack, Franziska von Almsick oder Jan Ullrich rein um ein gesundes Leben, wären sie nie Leistungssportler geworden. Sie haben diese Entscheidung bewusst getroffen. Ihr Ziel sollte es sein, in ihrer Sportart Leistungen zu bringen und dadurch Vorbilder zu sein, für ihre Leistung, nicht für ihre Gesundheit.