Matthias Heitmann  Klartext

"Fit – aber für was?" (10/2004)

Das Streben nach Gesundheit und Wohlbefinden ist einer der Megatrends der modernen Gesellschaft. Der Gesundheitsmarkt präsentiert jährlich Wachstumsraten, von denen andere Märkte nur träumen können. Vom Kindergarten an werden Menschen heute mit den Vorteilen einer gesunden Lebensweise vertraut gemacht.


Insbesondere die Fitnessbranche profitiert von diesem Megatrend. Nahezu jeder, der in der heutigen Zeit etwas auf sich hält, besucht ein Fitnessstudio oder hält sich auf andere Weise in Bewegung. Sogar in Vorstellungsgesprächen gilt die körperliche Fitness mittlerweile als „Soft Skill“ und ist so zu einem festen Bestandteil des gewünschten Bewerberprofils geworden.


Fitness hilft, Probleme zu lösen, heißt es: Fitte Menschen gelten als flexibler, leistungsstärker und leistungsorientierter, von ihnen wird Disziplin erwartet, da sie den inneren Schweinehund an der kurzen Leine zu halten imstande sind. Geistige Leistungsfähigkeit wir mehr und mehr auf eine „gesunde“ Einstellung zum eigenen Körper zurückgeführt. Nicht zuletzt gelten Menschen, die sich regelmäßig bewegen und ins Schwitzen kommen, auch als freundlicher, ausgeglichen, friedfertiger – einfach als angenehmer. Von ihrer Qualität als Liebhaber ganz zu schweigen.


Ob man nun Menschen, die sich fit halten, netter oder attraktiver findet, ist eine Frage des persönlichen Geschmacks. Problematisch wird die Sache erst, wenn der Grad der körperlichen Leistungsfähigkeit zur Kategorie wird, nach der Menschen bewertet werden. Dass dies in letzter Konsequenz kaum einer will, ist unstreitig. Dennoch führt die gesellschaftliche Aufwertung von Fitness dazu, dass dies in immer mehr Bereichen – wenngleich informell – geschieht.


Regelmäßiges Fitnesstraining mag gesund sein, es macht aber aus dem Trainierenden keinen besseren Menschen. Es macht aus ihm nicht einmal mehr unbedingt einen besseren Sportler. Das mag überraschend klingen, ist aber dennoch richtig. Selbst im Leistungssport, also dort, wo körperliche Leistung am größten geschrieben wird, ist Fitness nicht alles. Ein gutes Beispiel dafür bietet die deutsche Fußball-Nationalmannschaft.


Würde ein Fußballspiel allein durch Kondition, Schnelligkeit und körperliche Kraft entschieden, müsste Deutschland den Weltmeistertitel gepachtet haben. Seit Jahrzehnten gilt die deutsche Leistungsdiagnostik als weltweit führend. Dass deutsche Fußballer gut austrainiert sind, begründet nicht von ungefähr seit Jahrzehnten ihren guten Ruf. Das holländische Bonmot, demnach ein Sieg gegen „Duitsland“ erst dann feststehe, wenn man unter der Dusche stehe und immer noch führe, zeugt vom großen Respekt vor den sprichwörtlichen „deutschen Tugenden“ wie Kampfkraft und Kondition.


Dennoch spielen holländische, vor allem aber auch südamerikanische Mannschaften in der Regel technisch besseren Fußball. Mit körperlichem Einsatz lässt sich zwar manche spielerische Fehlleistung wettmachen, an der Sache ändert dies aber nichts. Die Fähigkeit zu gefälligem und flüssigem Kombinationsspiel ist nicht in erster Linie eine Frage von körperlicher Fitness, sondern von technischer Qualität und Spielintelligenz. Es fehlt nicht an Fitness, wenn die Füße nicht gehorchen und die Augen den Mitspieler nicht sehen.


Gerade bei Mannschafssportarten zählen neben der körperlicher Verfassung andere Qualitäten: Mit Teamgeist, Übersicht und Technik kann so mancher konditionelle Durchhänger ausgeglichen werden. Für Mannschaftssportler hat Fitness zudem eine ganz andere Bedeutung: Sie ist eine Voraussetzung, die erfüllt werden muss, damit der einzelne Spieler seiner Mannschaft helfen kann. Fitness ist für ihn zweckgebunden, und dieser Zweck ist nicht nur Selbstzweck, sondern strahlt auch auf seine Mitspieler aus.


Bei Individualsportlern ist dies anders. Aber selbst für sie gilt: Fitness ist nicht gleich Fitness. Ein Boxer muss zwar gut durchtrainiert sein, dennoch lebt er in seinem Sport von seiner ausgebildeten Oberkörper- und Armmuskulatur. „Fußballerwaden“ stören zwar nicht, sind aber auch nicht notwendig. Ein Marathonläufer wiederum braucht straffe Waden. Deren Muskulatur ist aufgrund der besonderen Belastung anders strukturiert als bei Sprintern. Letztere verfügen in der Regel über eine sehr „bullige“ Statur. Gute Langstreckenläufer hingegen sehen zumeist aus, als müssten sie kilometerweit laufen, um an etwas Essbares zu gelangen.


Wenn ein Langläufer für seinen Marathon fit ist, so bedeutet dies etwas ganz anderes, als wenn ein Tischtennisspieler zu Höchstform aufläuft. Die Frage der richtigen Fitness ist also davon abhängig, was man tut und erreichen will. Ein 85-jähriger Rentner darf sich zweifelsohne als „fit“ bezeichnen, wenn er in einem mehrstündigen Spaziergang seinen Enkel abhängt. Manche Menschen fühlen sich „fit“ – auch ganz ohne jedes Training.


Gerade deshalb ist Fitness ein sehr subjektiver Begriff und eignet sich nicht als allgemeingültige und in Stein gemeißelte Kategorie zur Bewertung körperlicher Leistungsfähigkeit. Seine Bedeutung ist abhängig sowohl von den körperlichen Grundeigenschaften als auch von der Ambition jedes einzelnen Menschen.


Dass körperliche Betätigung auch „Geist und Seele zusammenhält“, mag für den Einzelnen stimmen. Doch einen trainierten Intellekt – soviel steht fest – holt man sich nicht an der Hantel.