Matthias Heitmann  Klartext

"Die ausgebliebenen Untergänge der deutschen Fußballwelt" (4/2007)

Schlechte Nachrichten haben Hochkonjunktur. Natürlich auch im Fußball. Untergangsszenarien okkupieren die Schlagzeilen. Entwarnungen, Gegendarstellungen und nüchterne Analysen erregen hingegen eher weniger Aufsehen. Ganz zu schweigen von tatsächlich „guten Nachrichten“. Deren Quellen, so die gängige Ansicht, können nicht seriös sein. Dies ist noch die mildestes Form der Zurückweisung, in der Regel wird härter ausgeteilt: Man wolle Probleme verharmlosen und leugnen, man sei Teil einer Lobbygruppe oder einfach einseitig und korrupt. Die Sichtweise entspricht dem gesellschaftlichen Klima, in dem dem Individuum gerne und intuitiv das Schlimmste unterstellt wird. Da aber nicht alles so schlecht ist, wie es klein geschrieben wird, ist es an der Zeit, sich einmal einige Untergänge der Fußballwelt in Erinnerung zu rufen, die, obwohl von zahlreichen ängstlich-aufgeregt-misantrophischen Gemütern als schier unausweichlich beschworen, nicht stattgefunden haben.



Zwangsprostitution


Was ist nicht alles über die bevorstehende „Prostituierten-Schwemme“ anlässlich des Weltfestes des einstigen Männersports geschrieben worden! In einer ungewöhnlichen Koalition, die vom Vatikan über den Deutschen Frauenrat über radikale Feministinnen bis hin zu Alt-Kommunisten reichte, wurde behauptet, bis zu 40.000 Frauen würden unfreiwillig zur Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland eingeschleust, um den sich in den Städten zusammenrottenden Fußballfans aus aller Welt nach Abpfiff unter Zwang zu Diensten zu sein. In seinem am 29. Januar 2007 der Öffentlichkeit vorgestellten „Erfahrungsbericht zum Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und zur Zwangsprostitution im Zusammenhang mit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland“ stellte der Rat der Europäischen Union - der, wie nahezu alle EU-Institutionen, nur selten ein gutes Haar an den Menschen und ihrer Fähigkeit zu Menschlichkeit und Vernunft lässt und noch seltener Horrorwarnungen zurück nimmt - jedoch etwas völlig anderes fest. Anstelle der erwarteten 40.000 Fälle wurden lediglich in 33 Fällen Ermittlungsverfahren wegen Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung eingeleitet, von denen wiederum lediglich in fünf Fällen zeitliche Bezüge zur Weltmeisterschaft festgestellt wurden. Das Fazit des Rates war entsprechend eindeutig: „Der von manchen befürchtete Anstieg von Zwangsprostitution und Menschenhandel ... während der WM 2006 in Deutschland ist ausgeblieben. Auch eine signifikante Steigerung an Fällen des illegalen Aufenthaltes im Zusammenhang mit der Prostitutionsausübung konnte nicht festgestellt werden“. Dies wird uns dennoch wohl kaum vor einer erneuten Hysterie im Rahmen der EURO 2008 bewahren.


„Brennbare“ WM-Stadien


Einen großen Knaller hatte vor der Weltmeisterschaft auch die „Stiftung Warentest“ mit ihrer Behauptung gelandet, die neuen WM-Arenen entsprächen insbesondere beim Brandschutz nicht den aktuellen Sicherheitsstandards. Die Organisation hatte Anfang Januar 2006 den drei WM-Stadien Berlin, Gelsenkirchen und Leipzig die Note „mangelhaft“ gegeben, weil im Falle einer Panik keine ausreichenden Fluchtmöglichkeiten in den Innenraum bestünden. Hierbei handelte es sich nach Darstellung der WM-Organisatoren jedoch um eine These, der anerkannte Experten und testierte Objekt-Gutachten widersprachen. In Kaiserslautern habe die Stiftung trotz laufender Bauarbeiten und entgegen der Bitte der Betreiber getestet und dann einen mangelhaften Brandschutz festgestellt. In einem Radiointerview äußerte damals NRW-Bauminister Oliver Wittke: „Es kommen einem schon Zweifel, wenn ein Institut, das normalerweise die Qualität von Haushaltsprodukten, von Haushaltsgeräten, von Nachtcremes oder von Olivenölen prüft, dann plötzlich solche hoch komplexen, technischen Einrichtungen prüft. Das Bauvorhaben, beispielsweise der VELTINS-Arena in Gelsenkirchen, war das größte Bauvorhaben, das hier jemals über das Bauordnungsamt gelaufen ist und da haben sich hochqualifizierte Mitarbeiter jahrelang mit beschäftigt. Das man nun mal so eben, in drei, vier Stunden Besichtigung zu gewissen Urteilen kommt, das verwundert schon sehr.“ Vergleicht man zudem die hochmodernen Arenen des 21. Jahrhunderts mit den alten Stadion der 70er- und 80er-Jahre, erscheint die Aufregung zusätzlich absurd. Mal ganz ehrlich: Wo fühlen Sie sich im Falle eines ausbrechenden Brandes oder einer Panik besser geschützt: Im Berliner Olympiastadion oder am Aachener Tivoli?


Kommerzialisierung und Kirch-Krise


Immer wieder wird behauptet, die Kluft zwischen den Spitzenklubs der Bundesliga und den anderen Vereinen sei in den vergangenen Jahren größer geworden. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass dies nicht der Fall ist, im Gegenteil: Die Etats der Erstligisten haben sich über die Jahre in erheblichem Maße angeglichen. In der Saison 1983/84 konnte der finanziell am schwächsten ausgestattete Klub lediglich ein Budgetvolumen in Höhe von zirka zehn Prozent des Etatstärksten realisieren; in der Saison 2003/04 lag diese Quote bereits bei 38 Prozent. Fakt ist: Die finanziellen Ressourcen sind heute weitaus gleicher verteilt als noch vor 20 Jahren. Durch konsequent marktorientiertes Handeln haben insbesondere die „kleineren“ Vereine die Chancen der Kommerzialisierung nutzen können. Noch in den 80er-Jahren bestand eine Zweiteilung der Liga in eine kleine Anzahl von Vereinen, die die Professionalisierung des Managements vorantrieben, sowie in eine große Zahl von Klubs, die in Feierabendmanier von Vereinsfunktionären geführt wurden. Die Bundesliga der damaligen Zeit war von ausgesprochener Langeweile geprägt, da die Münchner Bayern lange Zeit die dominierende Mannschaft waren. In den 90er-Jahren hielt in nahezu allen Klubs betriebswirtschaftlich orientiertes Management Einzug. Die Professionalisierung der Branche erfuhr einen entscheidenden Schub und mit ihr auch der sportliche Wettbewerb in der Liga. Neben den Bayern konnten der 1.FC Kaiserslautern (einmal sogar als Aufsteiger!), der VfB Stuttgart, Werder Bremen und Borussia Dortmund die Meisterschaft für sich entscheiden; sogenannte „Kleine“ wie der VfL Wolfsburg, der VfL Bochum oder der SC Freiburg schafften über gute Platzierungen in der Liga den Sprung in den UEFA-Pokal. Auch die Meisterfrage war in den letzten Jahren sehr häufig eine äußerst knappe Angelegenheit. Die immer wieder beklagte fehlende internationale Konkurrenzfähigkeit der Bundesliga ist ebenfalls weniger eine Folge übertriebener Kommerzialisierung, sondern eher Ausdruck vergleichsweise starker kommerzieller Zurückhaltung. Diese Tendenz zur stärkeren Ausgeglichenheit innerhalb der Liga konnte auch nicht durch die Krise der Münchner Medien-Gruppe Kirch gestoppt werden. Kein Erst- oder Zweitligist musste Insolvenz anmelden – und das, obwohl nach dem Kirch-Bankrott in der Saison 2002/03 70 Mio. Euro weniger an TV-Geldern in die Kassen der 36 Bundesligavereine strömten. Dass sie es dennoch überlebten, zeigt, dass die Bundesligisten im Laufe der Zeit zu professionell geführten mittelständischen Unternehmen herangereift sind.


Wettskandal und Sittenverfall


Im Zusammenhang mit der fast schon reflexhaften Kommerzialisierungskritik wurde auch der Schiedsrichterskandal um Robert Hoyzer diskutiert, der angeblich – wie das immer gerne bei sogenannten Skandalen der Fall ist – nur die „Spitze des Eisberges“ dargestellt haben sollte. Die Faktenlage sieht jedoch anders aus: Hoyzer war und ist ein schwarzes Schaf und keineswegs der Inbegriff der Käuflichkeit, der wir uns ja angeblich alle irgendwann in unserem Leben schuldig machen. Wenn Hoyzer für irgend etwas steht, dann für die Fallstricke des angeblich moralisch so hochwertigen Amateurismus. Oder ist es nicht irgendwie auffällig, dass gerade ein Unparteiischer – das einzige nicht professionell entlohnte Glied im Profifußball – für sich selbst Partei ergriff? In jedem Fall blieb der die ganze Bundesliga erschütternde Schiedsrichterskandal ein Intermezzo. Ähnlich erscheint aus heutiger Sicht auch der Bundesligaskandal von 1971. Nahezu unvorstellbar für heutige Verhältnisse ist es, dass Spiele für ein paar Zehntausend Mark verschoben werden konnten. Deutlich vorstellbarer wird dies jedoch, wenn man sich vor Augen führt, dass der DFB die weltfremden Gehaltsobergrenzen von 1.500 DM erst 1974 abschaffte.


Gute Nachrichten sind also durchaus zu vermelden. Und es gibt zahllose weitere. Ereignisse – ob in der Politik oder im Sport – kritisch zu betrachten, heißt, die gängige Meinung zu hinterfragen. In unserer heutigen von Misantrophie geprägten Wahrnehmung bedeutet dies eben auch: Positives zu vermelden, wo Negatives erwartet wird und Pessimismus herrscht. Die Weltmeisterschaft ist im Übrigen auch nicht der Vogelgrippe zum Opfer gefallen.



Dieser Artikel ist in der April-Juni-Ausgabe der Zeitschrift Der tödliche Pass erschienen (Nr. 46).