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Matthias Heitmann  Klartext

Wird Tibet Fußball-Europameister?

Während die olympische Flagge auf ihrem globalen Spießrutenlauf wie ein Castor-Transport vor dem Zugriff von Demonstranten geschützt werden muss, rückt – fast schon unbemerkt von der Öffentlichkeit – ein weiteres sportliches Großereignis näher: die Fußball-Europameisterschaft in Österreich und in der Schweiz.



Fußballliebhaber sollten den olympischen Fackelträgern eigentlich dankbar dafür sein, dass sie die mediale Aufmerksamkeit so vollständig auf sich ziehen. Nachdem das letzte globale Fußballfest uns bereits Wochen und Monate vor dem ersten Anpfiff den letzten Nerv geraubt und sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel – wenngleich wenig glaubhaft – dazu veranlasst hatte, ihre Fernsehansprache an die Nation in Fußballsprache zu verfassen, herrscht in diesen Tagen eine fast schon unheimliche Windstille im Blätterwald. Das Schöne daran ist: Es geht in der Vor-Berichterstattung zur „Euro 2008“, so sie denn überhaupt existiert, tatsächlich fast ausnahmslos um Fußball – noch!


Zur Erinnerung: Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wurde in Deutschland zu einem Ereignis stilisiert, über das wir „zu uns selbst finden“, uns an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen und neu erfinden sollten. Kampagnen wie „Land der Ideen“, „Du bist Deutschland!“ sowie zahlreiche weitere staatliche Initiativen – fast jedes Ministerium hatte seine eigene WM-Kampagne – sollten der Gesellschaft Zuversicht, Sinn, Orientierung und Optimismus zurückgeben, die sie im Alltag und aus der ihr prognostizierten Zukunft nicht zu ziehen imstande sei. Man fühlte sich zuweilen wie in einem gottverlassenen mittelalterlichen Dorf, das sich wochenlang herausputzt und eine grundlegende Verbesserung seiner Situation erhofft, nur weil „König Fußball“ für vier Wochen Hof hielt.


Dass sich derartiges nun bei der Euro 2008 in Österreich und in der Schweiz wiederholen würde, steht nicht zu erwarten. Sollten jedoch in den nächsten Wochen weitere Inzestfälle in Österreich bekannt werden, erscheinen angesichts der Popularität von öffentlichen Protestkundgebungen und Boykotts auch Demonstrationen von Kinderschutzverbänden gegen die laxen Ermittlungsbehörden der Alpenrepublik als durchaus vorstellbar. Die Europameisterschaft findet in zwei Ländern statt, deren Herzen nicht ansatzweise so stark am Fußball hängen wie das deutsche. Die Österreicher zittern vor der erwarteten Blamage, aber auch die Eidgenossen, denen man mehr zutraut, glauben nicht wirklich daran, weiter als bis ins Viertelfinale des Turniers zu kommen. Angesichts dieser gedämpften Erwartungen überrascht es nicht, dass in den Alpenstaaten kaum jemand mit einem Sommermärchen rechnet. Auch die deutsche Euphorie hält sich wenige Wochen vor Beginn des Turniers in Grenzen.


Das mediale Interesse, insbesondere der Teile der Medienwelt, die mit Sport an und für sich nur wenig am Hut haben, konzentriert sich in diesem Sommer auf andere Sportereignisse. Im Juli werden wir uns anlässlich der Tour de France erneut mit der allgemeinen öffentlichen Aufregung über die „moralische Abgründe“ des Radsports auseinander zu setzen haben. Und pünktlich zu den im August stattfindenden Olympischen Spielen in Peking hat die westliche Öffentlichkeit ihre „Liebe zu Tibet“ wieder entdeckt und bringt sich unter Verwendung allerlei moderner Spielarten der alten Warnungen vor der „gelben Gefahr“ gekonnt in Stellung. Dass sportliche Großereignisse wie die olympischen Spiele als Bühnen für politische Kampagnen herhalten müssen, ist nichts Neues. Neu hingegen ist, dass mittlerweile die Athleten selbst von der Politik ermuntert werden, sich als Protestler zu betätigen und in Peking Protest-T-Shirts zu tragen.


In Zeiten, in denen bekennende Maoisten wie der Fußballer Paul Breitner für Deutschland Titel einheimsten, hätte man derlei wohl kaum erlaubt. Noch im letzten Jahr sah sich der Fußball-Weltverband Fifa genötigt, Profifußballern das Zurschaustellen „politischer, religiöser sowie persönlicher Schriftzüge“ zu verbieten, um Diskriminierungen zu unterbinden. Ob es in Österreich und in der Schweiz Ausnahmen von dieser Regel geben wird und der EM-Titel am Ende gar den Tibetern gewidmet wird? Die Zweckentfremdung des Sports ist mittlerweile soweit gediehen, dass auch dies vorstellbar erscheint. Aber über eines können wir uns sicher sein: Sowohl in Basel als auch in Wien oder in Peking werden nur ganz bestimmte Slogans auf den Trikots erlaubt werden. Und mit Sicherheit werden die „persönlichen“ Message-Shirts zuvor in Mannschaftsstärke verteilt. Shirts, die die politische wie geistliche – mithin totale – Führerschaft des Dalai Lama über die Tibeter als mittelalterlich-archaisch, antiaufklärerisch und undemokratisch problematisieren, werden ganz bestimmt nicht über unsere Bildschirme flimmern.


Angesichts des auf uns wartenden „Sport-Politik-Sommers“ ist die beschauliche Ruhe rund um die Fußball-Europameisterschaft fast schon erfrischend. Genießen wir sie, solange es geht!