Matthias Heitmann  Klartext

„Von Nürnberg nach Den Haag“

- über die Bedeutung von Kriegsverbrechertribunalen früher und heute


Am 20. November 1995 jährt sich zum 50. Mal der Beginn des Nürnberger Hauptprozesses gegen 22 der führenden Nationalsozialisten. Dieses Jubiläum fällt mit der Eröffnung der Kriegsverbrecherprozesse in Den Haag gegen jugoslawische und ruandische Kriegsverbrecher zusammen. In den heutigen Debatten wird zumeist die Kontinuität zwischen dem Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg und dem Haager Tribunal betont sowie die Hoffnung, es werde sich "allmählich ein Völkerstrafrecht entwickeln, das seinen Ursprung in Nürnberg hat und seine Zukunft im nächsten Jahrhundert" (ZEIT Dokument 1/1995, S. 43). Nürnberg ist heute ein weit verbreitetes Synonym für die Entwicklung eines internationalen bindenden Völkerrechts, das das Ziel verfolgt, Menschenrechte durchzusetzen und Kriege zu verurteilen.

Bei genauerem Studium der Literatur zu Nürnberg und zu Kriegsverbrechertribunalen im allgemeinen fällt auf, daß man sich in den letzten 50 Jahren nicht immer so einig war, was die Interpretation der Nürnberger Prozesse betraf. Vielmehr erhält man den Eindruck, daß Nürnberg, je länger es zurückliegt, desto unproblematischer und unkritischer gesehen wird. Was sich in der Betrachtung der Tribunale in den letzten 50 Jahren verändert hat, ist aber nicht die Faktenlage – die Protokolle sind seit jeher zugänglich und die Prozesse wurden mittels Medien weltweit verfolgt –, sondern die politische Situation, in der dieses Ereignis diskutiert wurde: Die Einrichtung des Nürnberger Tribunals im November 1945 war weniger ein optimistischer Aufbruch in eine neue friedliche und menschliche Welt, sondern vielmehr ein Ausdruck der tiefen politischen und ideologischen Krise des westlichen Staatensystems. Der Verlauf der Prozesse von Nürnberg und die kritische öffentliche Debatte über ihren Sinn und Zweck dokumentieren die großen Schwierigkeiten, mit denen die Alliierten konfrontiert waren.

Betrachtet man die heutige Berichterstattung über Den Haag, so zeigt sich, daß die damalige Legitimationskrise überwunden zu sein scheint. Die Einrichtung des Haager Tribunals zu Jugoslawien wird allseits begrüßt. Die neugewonnene moralische Autorität westlicher Institutionen führt dazu, daß die Grundannahme, der Westen müsse ein solches Tribunal einrichten, in der Öffentlichkeit nicht hinterfragt und von Politikern aller Couleur sehr offensiv vertreten wird.



Nürnberg – Ausdruck der Krise des Westens


Die Einrichtung des internationalen Kriegsverbrechertribunals war ein Versuch, mit der schwierigen Nachkriegssituation umzugehen. Das Tribunal gegen Nazi-Deutschland sollte einerseits dazu dienen, die Verantwortlichkeit für die Barbarei des 2. Weltkrieges auf Deutschland zu begrenzen und somit die alliierten Siegermächte von den nationalsozialistischen deutschen Machthabern abzugrenzen. Andererseits sollten über das Tribunal die Grundlagen für eine neue vom Westen dominierte Nachkriegsordnung geschaffen und über ein neues internationales Recht legitimiert werden. Trotz einflußreicher kritischer Stimmen, die die Prozesse ablehnten, fand das internationale Militärtribunal in Nürnberg recht breite Unterstützung, nicht zuletzt, weil eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einer Verurteilung der Nazis verständlicherweise zustimmte und die Prozesse als einen ersten Schritt in eine bessere Zukunft ansah. Den Alliierten gelang es, diese Stimmung zur Stärkung ihrer eigenen Legitimation zu instrumentalisieren.

Die Greuel des 2. Weltkrieges und das unvorstellbare Ausmaß der Zerstörung markierten nicht nur das Ende des Dritten Reiches, sondern das einer ganzen politischen Epoche. Der Holocaust, die Verwüstung Europas und das Vorgehen der westlichen Kolonialmächte in Asien und Afrika, die Massenvernichtung von Menschen und Zerstörung ganzer Landstriche auf dem gesamten Globus führten der Weltöffentlichkeit vor Augen, daß es so nicht weitergehen konnte. Die alte Ordnung der Welt, geprägt von direkter kolonialer Herrschaft konkurrierender westlicher Staaten und den daraus resultierenden nationalistischen Konflikten innerhalb des Westens um die globale Machtverteilung, war im totalen Weltkrieg ebenso diskreditiert und zerstört worden wie der moralische und rassisch begründete Führungsanspruch des "zivilisierten weißen Mannes" über die unterentwickelte Welt. Die alliierten Führer waren sich dieser Situation bewußt, denn daß sowohl Greueltaten, Massaker an Zivilisten, Flächenbombardements wie auch das Verletzen von Nichtangriffspakten und internationalen Kriegsrechten keine rein deutsche Erfindung waren, konnte nicht geleugnet werden. Selbst der Antisemitismus und die Judenverfolgung, wenn auch in ihrer Ausprägung in Deutschalnd einmalig, konnten ebenfalls nicht so einfach auf Deutschland reduziert werden, sondern galten als Phänomen nahezu aller westlichen Gesellschaften. Die ideologische Nähe zum Nationalsozialismus, die sich vor Kriegsbeginn sogar in großer Bewunderung des NS-Staates von Seiten westlicher Demokraten wie Churchill äußerte, machte es nun schwierig, sich von der deutschen Elite abzugrenzen. Man kam aber, um sich erfolgreich abzugrenzen, nicht umhin, die von den Nazis verübten Greueltaten und Verbrechen anzuprangern und anzuklagen, auch, wenn man sich dabei letztlich selbst anklagte und schuldig sprach.


Der US-Chefankläger Robert H. Jackson, ein liberaler Rechtsanwalt, der es unter Präsident Roosevelt bis zum Justizminister gebracht hatte, repräsentierte mit seinen Vorstellungen die der liberalen westlichen Intelligenz, der es einerseits um die Verhinderung eines weiteren Weltkrieges ging, die andererseits aber auch die Verantwortung der westlichen Kolonialmächte nicht völlig außer Acht ließ. In seiner Eröffnungsrede vor dem Nürnberger Tribunal am 20. November 1945 brachte er diesen Anspruch, einen Neuanfang begründen zu wollen, zum Ausdruck, als er ausführte: "Das zu schaffende internationale Recht wird hier zunächst auf die deutschen Angreifer angewandt, es schließt aber ein und muß, wenn es von Nutzen sein soll, den Angreifer jeder anderen Nation verdammen, nicht ausgenommen die, die jetzt hier zu Gericht sitzen".

Deutlich werden hier die tiefsitzende Skepsis, selbst gegenüber den Zu-Gericht-Sitzenden, sowie der Wunsch nach einer bindenden internationalen Ordnung, die einen weiteren Weltkrieg nicht zulassen werde.


Angesichts solch kritischer Töne ist es nachvollziehbar, daß die Führungsriegen der westlichen Staaten dem Nürnberger Tribunal anfangs mit gemischten Gefühlen gegenüberstanden. Auf der einen Seite spürte man, daß ein solches Tribunal auch für die westlichen Eliten angesichts ihrer engen politischen und ideologischen Beziehungen zu Nazi-Deutschland problematisch werden und man Gefahr laufen könnte, sich selbst zu entwaffnen. Die Verdammung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, um die es in Nürnberg gehen sollte, stellte die gesamte Kolonialpolitik des Westens, in der diese Verbrechen an der Tagesordnung waren, in Frage. Andererseits erkannte einige, daß das Tribunal auch eine Quelle neuer politischer und moralischer Autorität werden konnte. Dieser Zwiespalt zwischen den Befürwortern und den Gegnern des Tribunals setzte sich bis in die Führungsetagen des US-Establishments fort. Während Chefankläger Jackson daran arbeitete, die Alliierten von seiner Konzeption des Tribunals zu überzeugen, stellte der US-Finanzminister Morgenthau die Sinnhaftigkeit von Nürnberg in Frage: "Wir wissen doch schon längst, daß die SS und die Gestapo schuldig sind – ein Gerichtsverfahren wäre daher nichts als eine Farce". Jackson setzte sich letztlich gegen Morgenthau durch, da Präsident Truman nachhaltig davon überzeugt war, daß Nürnberg, wenn es gelänge, die Anklage auf die deutschen Verbrechen zu beschränken, als Instrument der politischen Schadensbegrenzung und der Begründung der moralischen Autorität der USA gut geeignet sei.


Der Verlauf der Prozesse trug diesem Zwiespalt Rechnung. Wie problematisch die Formulierung der Anklage war, thematisierte Jackson in seinen eigenen Aufzeichnungen, als er seine Absicht betonte, "sich nicht in eine Diskussion über die Ursachen des Krieges hineinziehen zu lassen".

Trotz dieser enormen Schwierigkeiten und einiger kritischer Stimmen war es den westlichen Führungen damals zumindest kurzfristig gelungen, durch die Nürnberger Prozesse den politischen Schaden des 2. Weltkrieges zu begrenzen. Die weitverbreitete Idee, die Nationalsozialisten müßten bestraft werden, wurde erfolgreich instrumentalisiert, um den durch den Krieg und die Nähe zum Nationalsozialismus weitgehend diskreditierten kapitalistischen Westen vom NS-Staat abzugrenzen und aus der Schußlinie der Kritik zu nehmen. Auf der Basis von Nürnberg wurden internationale Gesetze und Richtlinien entwickelt und verabschiedet. Auch die von den USA inspirierte Gründung der UNO im Jahre 1945 ist als Versuch zu werten, die ideologische Krise des westlichen Staatensystems zu überwinden und seine weltweite Vorherrschaft durch neue internationale Institutionen und allgemeingültige Regelungen auf ein neues Fundament zu stellen. Die ursprünglichen ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates waren genau die, die in Nürnberg über Nazi-Deutschland zu Gericht saßen.



Wackeliges Fundament


Die tatsächliche Bedeutung der Nürnberger Prozesse steht in einem offenen Gegensatz zu der Bedeutung, die ihn in den heutigen Diskussionen zugeschrieben wird. Die "Nürnberger Werte" und Richtlinien, von denen ein neues Zeitalter ausgehen sollten, entpuppten sich als wenig überzeugende Basis für eine zu schaffende Friedensordnung. Schon die damalige vorrangig liberale Kritik belegt, wie umstritten die Prozesse waren. Auch wenn sich diese Kritik in erster Linie an der juristischen Form der Prozesse festmachte, war doch vielen Intellektuellen klar, worum es in Nürnberg wirklich ging: um die Schaffung eines ideologischen Instrumentes, daß lediglich benutzt wird, wenn es dem Autoritäten in Washington oder London nutzen konnte.


Um die Einseitigkeit des Nürnberger Tribunals zu erkennen, bedurfte es keiner besonderen Beobachtungsgabe. Die Abgrenzung der westlichen Staaten vom Nationalsozialismus war so schwierig, daß sie künstlich erzwungen werden mußte. Sichergestellt wurde dies durch eine Reihe von Beschränkungen, die der Verteidigung auferlegt wurden: So war es der Verteidigung untersagt, vor Gericht auf alliierte Greueltaten zu verweisen. Ebenso wurde jeder Versuch einer Rechtfertigung deutscher Soldaten unter Verweis auf das international geltende "militärische Führerprinzip" abgelehnt und untersagt. Deutlich wurde der Versuch, die Verbindungen zwischen dem Westen und dem Dritten Reich zu ignorieren, auch in einer Reihe von Urteilen: Von einer Verurteilung des in der westlichen Finanzwelt hoch angesehenen ehemaligen Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht, der unter Hitler wegweisend für die Finanzierung der Wiederaufrüstung war, wurde auf Druck amerikanischer Bankiers und Teilen des US-Establishments abgesehen, da dies die tiefe Verstrickung der internationalen Kapitals in die Kriegsvorbereitung und -führung ans Tageslicht befördert hätte. Dies geschah, obwohl Chefankläger Jackson Schacht auf seiner persönlichen Abschußliste hatte und in ihm einen der größten Verbrecher sah.

Im 1948 abgehaltenen sogenannten "Richterprozeß", bei dem deutsche NS-Richter vor Gericht standen, wurde die stets betonte Abgrenzung zum Nationalsozialismus zur Farce, als die Verteidigung belegen konnte, daß die als kriminell bezeichnete Idee der Sterilisierung von Behinderten keine Erfindung der Nazi-Juristen war, sondern bereits vorher in einigen US-Staaten in die Verfassung aufgenommen wurde.

Aber nicht nur die Prozesse selbst widersprachen den vollmundigen Versprechungen westlicher Machthaber. Die Geschehnisse in den Monaten nach Jacksons optimistischer Eröffnungsrede zerstörten den letzten Funken Hoffnung auf einen wirklichen Neubeginn. Jackson selbst wurde zunehmend frustrierter angesichts der Ereignisse vor und während der Prozesse. Er hielt in seinen Aufzeichnungen fest, wie schwer ihn schon die Atombombenabwürfe sowie die Kenntnis über die amerikanische Kriegsführung in Asien, die er selbst als "kriminell" beschrieb, erschüttert hatten. So wie ihm erging es vielen Vertretern des westlichen Liberalismus, die sich einen Neubeginn auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Angesichts des Beginns des Kalten Krieges und der einsetzenden Wiederaufrüstung, angesichts des Korea-Krieges und der brutalen Schlachten der Befreiungskriege von Indien über Kambodscha, Indochina bis Algerien, wuchs die allgemeine Kritik an der westlichen Politik und der moralischen Integrität westlicher Führer.


Mit dem Vietnam-Krieg erwies sich das wackelige ideologische Fundament, daß im Nürnberg der späten 40er Jahre begründet wurde, als endgültig gescheitert. Der Mythos Nürnberg war am Ende. Die Kritik der Dritten Welt am Westen wurde immer lauter, unterstützt durch massive Solidaritätsbekundungen der Menschen im Westen. Immer offener wurde der ideologische Charakter der in Nürnberg postulierten rechtlichen Urteilsnormen wie "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" oder "Kriegsverbrechen" thematisiert, und es mehrten sich Stimmen, die ein Kriegsverbrechertribunal für den Westen forderten. Das von Friedensnobelpreisträger Bertrand Russel initiierte sogenannte "Vietnam-Tribunal" 1966/67 war einer der Höhepunkte der Protestbewegung gegen die US-Intervention. International anerkannte Philosophen, Schriftsteller, Journalisten, Juristen, Historiker und Naturwissenschaftler, unter ihnen bekannte Namen wie Jean-Paul Sartre, Günther Anders, Stokeley Carmichael und Wolfgang Abendroth, folgten dem Ruf Russels nach London und später nach Stockholm, um im "Russel-Tribunal" mitzuwirken. In seiner Eröffnungsrede am 13. November 1966 brachte Russel die weitverbreitete und tiefsitzende Skepsis gegen staatliche Autoritäten zum Ausdruck, als er dem Tribunal bescheinigte, es sei "frei, ein ernstes und historisches Verfahren durchzuführen, ohne durch Rücksichten auf den Staat oder andere derartige Verpflichtungen gebunden zu sein" (Das Vietnam-Tribunal, Bd.1, Russel/Sartre, 1968, S.9). Am 10. Mai 1967 erklärte das Tribunal vor der Weltöffentlichkeit die USA des Aggressionskrieges, des Verbrechens gegen die Menschlichkeit und des Verstoßes gegen das Völkerrecht für schuldig.


Angesichts dieser massiven Kritik gerieten sogar bedeutende Verfechter des US-Führungsanspruchs zunehmend in die Defensive. Ein gutes Beispiel hierfür ist Telford Taylor, der selbst Ankläger in den Nürnberger Nachfolgeprozessen war. Nachdem er noch 1949 und 1950 von der zentralen Bedeutung des Nürnberger Tribunals für die Weltpolitik sprach, schien er 1970 resigniert zu haben und schrieb, daß sich "die Maßstäbe von Nürnberg (...) heute gegen die USA selbst" richten und nahm damit in erster Linie Bezug auf Vietnam und die von US-Soldaten verübten Massaker von My Lai. Vor dem Hintergrund dieses Massakers schrieb er: "Heute gibt es keinen internationalen Gerichtshof mehr, der befugt wäre, ein Urteil abzugeben" (Telford Taylor: Nürnberg und Vietnam, 1970). Es ergibt sich, woher sein Sinneswandel kam: Das Gericht hätte die USA wegen verbrecherischer Kriegsführung anklagen müssen.



Wiederbelebung des "Mythos Nürnberg"


Erst in den letzten Jahren ist es den westlichen Führungsriegen wieder gelungen, moralisches Oberwasser zu gewinnen. Heute stellt die dunkle Vergangenheit weder für Deutschland noch für die anderen westlichen Staaten ein Hindernis dar, verstärkt und direkter in die Dritte Welt und Osteuropa zu intervenieren. Für diese moralische Aufwertung des Westens sind mehrere Faktoren entscheidend:

Zum einen trägt die seit Jahren von Historikern aus dem rechten Spektrum betriebene Neudefinition und Umschreibung der Geschichte dazu bei, die Greuel des Faschismus zu relativieren.

Andererseits hat der Niedergang der kritischen liberalen und linken Intelligenz seit den 70er Jahren zur Folge, daß heute immer weniger kritisch die Ursachen von Konflikten und Problemen beleuchtet werden. Das nur noch oberflächliche Verständnis gesellschaftlicher Zusammenhänge bewirkt eine enorme Trivialisierung der Wahrnehmung sozialer Phänomene. Die Rolle der einst kritischen Intelligenz in Bezug auf die Interpretation des Jugoslawien-Krieges oder der Ereignisse in Ruanda ist insofern fatal, als daß sie durch die – aus dem Gefühl der eigenen Ohnmacht heraus gestellten – Gleichsetzung der Greuel im ehemaligen Jugoslawien mit denen des 2. Weltkrieges, mit der sie ihrer Forderung nach Beendigung des Krieges Nachdruck zu verleihen suchen, der Relativierung der Vergangenheit sogar noch Vorschub leistet. So sind es heute insbesondere ehemals kritische Kreise, die angesichts der eigenen Unfähigkeit zur grundlegenden Analyse von Kriegsursachen heute die glühendsten Verfechter des Haager Kriegsverbrechertribunals und westlicher Interventionen geworden sind. Der Niedergang der alten Linken wurde durch den Zerfall des Ostblocks, der von vielen als das Ende jeglicher Alternative gesehen wurde, sowie der damit einhergehenden Degeneration der Freiheitsbewegungen in der Dritten Welt, noch beschleunigt.


Diese Faktoren bewirken, daß die Kritik, die noch vor 20 Jahren die moralische Autorität des Westens grundlegend in Frage stellte, irrelevant geworden ist. Klagte das Russel-Tribunal 1966 noch die westlichen Führer selbst der Verbrechen gegen die Menschlichkeit an, werden diese heute aufgefordert, die Kriegsverbrecher Osteuropas und der Dritten Welt zu richten. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum heute westliche Politiker ganz andere Töne anschlagen können, wenn es um das Verhältnis zwischen Erster und Dritter Welt geht. Westlicher Chauvinismus kann heute geradezu ungehindert verbreitet werden und verbindet sich mit dem pessimistischen Zynismus der alten Kritiker zu einem Gebräu, indem der Ruf nach Autorität und regelndem Durchgreifen immer lauter wird. Heute ist die Vorstellung, daß einzig der Westen in der Lage ist, Probleme zu lösen und für Frieden und Humanität zu sorgen, weiter verbreitet als die Skepsis in den 60er und 70er Jahren.


Dieses politische Klima ist es, das die heutige Sichtweise von Kriegsverbrechertribunalen prägt. Nicht die Fakten und Motive westlicher Außenpolitik haben sich verändert, sondern deren Wahrnehmung. Der Kollaps kritischer Öffentlichkeit macht es den westlichen Chefideologen heute sogar möglich, wenig ruhmreiche Kapitel ihrer Geschichte, wie z.B. Nürnberg, das man in den 70er Jahren am liebsten aus den Geschichtsbüchern gestrichen hätte, zur Begründung einer neuen moralischen Autorität zu nutzen. Während in Nürnberg die Krise des westlichen Systems bewältigt werden sollte, wird heute in Den Haag selbstbewußt westlicher Militarismus zur Schau getragen. Das einzige, was sich gleicht, ist die Sprache: Wie vor 50 Jahren wird auch heute von einem "Aufbruch in eine friedliche Welt" gesprochen und der Westen als Friedensbringer aufgewertet. Man kann nur hoffen, daß dieser Versuch auch dieses Mal scheitert.


(Novo19, November 1995)