Matthias Heitmann  Klartext

„Lego-Politik: GRÜNdlich daneben!“

Das grüne Wahlprogramm 2005 ist ein Anti-Anti-Depressivum.

Von Sait Amnamtieh


Sehr geehrter Herr Deichmann,


Sie baten mich, das neue Wahlprogramm „Solidarische Modernisierung und ökologische Verantwortung“ von Bündnis 90 / Die Grünen zu kommentieren. Gerne komme ich dieser Aufforderung nach, zumal dieses Programm vor allen Dingen dadurch besticht, dass es im Vergleich zum grünen Grundsatzprogramm des Jahres 2002 eine deutliche Weiterentwicklung durchgemacht hat.


Damals kommentierte ich dessen Kernaussage, man wolle „Politik auf Kindernasenhöhe“ betreiben, wie folgt: „Wer ‚Politik auf Kindernasenhöhe’ betreibt, hat noch nie einen Tellerrand gesehen, geschweige denn darüber hinaus.“ Diese Aussage kann ich so heute nicht mehr aufrechterhalten. „Nasenhöhe“ impliziert unmittelbare Hirnnähe, also zu jenem menschlichen Organ, in dem auch bei Kindern Verstand, Logik und konstruktives Denken sowie Hinterfragen ihr Unwesen treiben (können). Das grüne Wahlprogramm 2005 hantiert nicht mehr in dieser abgehobenen Sphäre, sondern ist endgültig auf Bauchniveau abgesunken. Bauchgrimmen, Bauchschmerzen und Übellaunigkeit prägen den Leseprozess, und auch beim Schreiben muss es heftig in der Magengegend rumort haben.


Dabei fängt alles ganz nachvollziehbar an. „Ohne Ökologie ist kein Leben möglich, kein Arbeiten und keine wirtschaftliche Entwicklung, keine Gerechtigkeit und keine Freiheit.“ „Freiheit lässt sich nur leben, wenn man nicht täglich in der Angst um die eigene Existenz lebt.“ So steht es in der Präambel. In Fußball-Talkshows hat sich mittlerweile das so genannte „Phrasenschwein“ durchgesetzt, in das jeder Diskutant, der mit Plattitüden aufwartet, einen bestimmten Euro-Betrag einzuwerfen hat. Allein die Präambel des grünen Wahlprogramms trüge, gäbe es ein „Politik-Phrasenschwein“, erheblich zur Entlastung des deutschen Staatshaushaltes bei.


Der „inhaltliche“ Teil des Programms beginnt in ur-grüner Tradition mit einer Bilanz des Weltuntergangs: „Die Klimazerstörung schreitet mit dramatischer Geschwindigkeit voran, die Polkappen schmelzen und die Erderwärmung nimmt zu.“ Wer das stoisch-pessimistische Kopfnicken kurz unterbricht und das Hirn für einen Augenblick einschaltet, dem fallen sofort ketzerische Fragen ein: Wie sieht denn ein „zerstörtes“ Klima aus? Wie eine zerrissene Jute-Tasche? Und vor allen Dingen: Wie kann ich als einfaches Gemüt das „Abschmelzen der Polkappen“ mit der Tatsache in Einklang bringen, dass am Südpol Eismenge und -dicke beständig wachsen? Ist das Kälterwerden des Südpols eine Folge der „Erderwärmung“?


Aber halten wir uns nicht bei den Grundlagen auf und steigen ein in die deutsche Debatte. Unter dem Titel „Deutschland ist grüner geworden“ wird vorgetragen, dass im Bereich Windkraft und Photovoltaik Landwirte die Chance erhalten, als „Energiewirte“ tätig zu werden. Ich bin nun wahrlich kein Kuhmist-Fetischist, aber die Bebauung landwirtschaftlicher Nutzflächen mit Windrädern als Begrünung darzustellen, erscheint mir zumindest gewagt.


Im Abschnitt „Ehrliche Bilanz – Aus Fehlern lernen“ lernen wir, dass die grünen Antworten auf die Massenarbeitslosigkeit „oft als kalt empfunden“ worden seien, was wohl an der Verwendung „technokratische[r] Bezeichnungen wie ‚Hartz IV’ und ‚1-Euro-Job’“ gelegen habe. Tatsächlich, man hatte versäumt, die Bürger aufzufordern, bessere Namensvorschläge einzureichen. Was sich mit einer weiteren Auskunft deckt: „So steht in der Arbeitsmarktpolitik das Fördern der Arbeitssuchenden noch nicht hinreichend dem Fordern gegenüber.“ Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, die „1-Euro-Jobs“ als ehrenamtliches Engagement einzustufen.


A propos Wortgewalt: Manchmal gelang es den grünen Programmatikern zumindest in Ansätzen, schöne Begrifflichkeiten zu konstruieren. Angesichts der fortschreitenden Entvölkerung Ostdeutschlands von „Stadtumbau Ost“ zu sprechen, lässt grünen Visionsgeist und fürwahr „blühende Landschaften“ kurz aufblitzen.


Häufig aber schlägt die ungeduldige Visionslosigkeit durch: „Weg von Öl und Atom“ deutet darauf hin, dass sich die Bündnisgrünen langsam auf den Übergang in eine immaterielle Existenz vorbereiten. Das zeigt sich auch im Abschnitt über Ernährung und in seiner sinnigen Überschrift „Gen-Food – Nein Danke!“. Wer gentechnikfreie Ernährung fordert, wird künftig nicht einmal mehr auf Hirsekörnern herumkauen können. Aber besser als nix, denn „[f]alsche Ernährung kann zu … Übergewicht und Folgeerkrankungen führen. Jeder zweite ist bereits davon betroffen.“


Vielleicht ist genfreie, also nicht vorhandene Ernährung auch der Weg zu einem weiteren grünen Ziel, nämlich, „den zusätzlichen Flächenverbrauch in Deutschland um 75 Prozent [zu] reduzieren“. Oder ist dies doch nur ein versteckter Seitenhieb auf den Spitzenkandidaten?


Als Anti-Anti-Depressivum ist das grüne Wahlprogramm Regierungs- und Oppositionsprogramm in einem und hält für alle Zukunftsbefürchter diverse Legosteinchen zum Zusammenbauen bereit. Aber die Grünen angesichts dieser Leistung zu feiern, würde zu weit führen, denn: sie haben das Programm gar nicht selbst geschrieben! In Teilen wurde es von der Internet-Community verfasst, ein jeder durfte herumsalbadern. Steffi Lemke von den Grünen beruhigte zwar in einem Spiegel Online-Interview die um grüne Klarheit besorgten Seelen: „Offensichtlichen Unsinn werden wir da selbstverständlich nicht weiterverfolgen. … Ich habe bis jetzt noch keinen Punkt gesehen, wo ich sagen würde, das ist eine völlig durchgeknallte Idee.“ Ich aber traue ihrer Beschwichtigung nicht…


Bleibt eigentlich nur noch der Rückzug auf den grünen Kernsatz schlechthin, der auch im Wahlprogramm 2005 nicht fehlen darf. „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt.“ Hinzuzufügen wäre jedoch der Beisatz: „Und seine Kinder kann man sich bekanntlich nicht aussuchen.“ Hierfür werfe ich gerne drei Euro ins Phrasenschwein. Aber vielleicht nimmt sich ja die Grüne Partei, deren Protagonisten das Haltbarkeitsdatum ihrer politischen Verwertbarkeit längst überschritten haben, hier beim Wort: Rückt endlich den Globus an die nachkommenden Generationen heraus, auf dass diese mit den dringend notwendigen Renovierungs- und Modernisierungsmaßnahmen beginnen können!


Beste Grüße,


Sait Amnamtieh



Erschienen in Novo78, September 2005