Matthias Heitmann  Klartext

„Mit hippe Hesse babbele“

- ein Leitfaden für Fremdlinge


Der Hesse wohnt mitten in Deutschland. Nord-, Süd-, Ost- oder Westdeutsche reisen zumeist durch sein Land hindurch, ohne ihn aber genauer kennen zu lernen. Kein Wunder also, dass das Wissen darüber, was der Hesse so treibt und was „hessisch“ ist, recht oberflächlich bleibt – dazu steht nichts auf den Autobahnschildern.

Aber können die Hessen selbst zur Klärung der Frage beitragen? Nun, wer oder was Hessen nicht repräsentiert, darüber wird man sich im Hessenland relativ schnell einig: Nein, Heinz Schenk is net de hessische Gulturbabst, Familie Hesselbach is net de Brototüb hiesiger Häuslichkeit, und der wenig „errrrodische“ Spaßmacher „Maddin“ Schneider is aach net graad de scheenste Hesse, wo aufm Planet rumlaawe tut. Viel weiter gehen die Gemeinsamkeiten aber nicht. Die „hessische Frage“ bleibt unbeantwortet. So pocht der Nordhesse darauf, dass „Frankfodder“ und die Leud’ aus „Hessisch-Kongo“ (Südhessen) gar kein Hessisch, sondern „Rheinfränkisch“ sprechen. „Geh doch haam, Du ahle Babbsack!“ oder so ähnlich könnte die südhessische Antwort auf den Verbalangriff aus „Hessisch-Sibirien“ klingen.

Doch auch innerhalb der Regionen brodelt die hessische Uneinigkeit. Wenn Frankfurter und Offenbacher aufeinandertreffen, ist es unklar, wie der Abend endet. Freunde werden sie jedenfalls nicht. Sogar innerhalb von Städten wird die Frage der „Echtheit“ diskutiert: So trennt nicht nur der Main das Hessen-Metropölchen Frankfurt in das nördliche „Hibbdebach“ und das südliche „Dribbdebach“. Echte „Bernemmer“ (Bewohner des Frankfurter Stadtteils Bornheim) behaupten zudem steif und fest, sie könnten Sachsenhäuser an ihrem „Gebabbel“ erkennen. Und beide Seiten betonen natürlich, „die einzisch Eschte“ zu sein.

Wenn sich „Eigeplackte“ (eine leicht distanzierte Umschreibung für „Zugezogene“) dem hessischen Variantenspektrum des Homo sapiens nähern wollen, sollten sie dies möglichst behutsam und ohne Hinweis auf die ungeklärte Identitäts- und Zugehörigkeitsfrage tun. Zudem ist ein dickes Fell ratsam. Denn das „Dorschenanner“ und „Geknoddel“ hessischer Mund- und Denkarten zeichnet sich für Außenstehende durch eine gewisse Schroffheit aus, die häufig als Ablehnung ausgelegt wird. Zu Unrecht, denn eigentlich freuen sich Hessen über Besuch. Und ihre Dialekte sind gut geeignet, Distanz abzubauen, ohne jedoch überfreundlich zu sein. Wenn der Kellner in der Kneipe fragt „Was wolles’n dringe?“, so ist das Verschlucken der förmlichen Anrede nicht abfällig, sondern wörtlich gemeint: Spätestens nach dem dritten Ebbelwoi bleiben sprachliche Förmlichkeiten ohnehin in der Mundhöhle hängen und mer babbelt, wie einem de Schnabbel gewachse is.

Also doch alles Friede, Freude, Zwiwwelkuuche? Awwer uffgepassd! Der breite hessische Schnabel taugt zwar nicht zu spitzen Nadelstichen, weil er harte Konsonanten konsequent durch doppelte weiche ersetzt; dennoch kann er dumpfe Hiebe austeilen. Das muss er auch, um sich in der internen Identitätsfrage zu behaupten. Wenn Ihr eingeborener Gegenüber am Tresen wütend feststellt, er „kennd graad verriggd werrn“, beginnt seine Verwandlung in eine beleidischd Lebberworschd – ein eher zwischenhessischer Gemütszustand. Dieser ist aber leicht umkehrbar: Geben Sie ihm schnell noch einen „Bembel“ aus, und alles wird gut. Hessen sind nicht nachtragend, was auch erklärt, warum sie in ihrer Landesverfassung weiterhin an der Todesstrafe festhalten und es in Äpplerkneipen keine Dischdüscher gibt, auch keine zerschnittenen.

Stattdessen babbelt man lieber „dumm Zeuch“, und das ohne Unterlass, mit dem Ziel, größere Kulturkämpfe zu vermeiden. Die hessischen Dialekte sind auch dafür wie geschaffen: Sie können enorm an Fahrt aufnehmen. Der Kabarettist Konrad Beikircher hat dafür eine plausible „wissenschaftliche“ Erklärung: „Beim Hessen sitzt das Sprachzentrum im rechten Nasenflügel“, was dem Dialekt seinen „feinen nasalen Klang“ verleiht, aber auch seine Geschwindigkeit, „da die Wördder direkt von de Nas’ in de Mund dröbbele könne“. Diese babbelnde Dynamik macht den Hessen so sympathisch, so friedlich und so hip: S’Lebbe gehd weider. Hauptsach’, es zischt wie Appelsaft.


Erschienen in der Financial Times Deutschland, Sonderbeilage „Frankfurt am Main“, 29. April 2004.