Matthias Heitmann  Klartext

H – Hirnwäsche

- Der Tierfilm als Moralkeulen-TV


Tagtäglich: Über den Bildschirm huschen niedliche Erdmännchen, im Hintergrund zieht eine Gruppe Elefanten vorbei, die Luft ist erfüllt von umherfliegenden Insekten und Vögelchen, während das Nilkrokodil friedlich im Schlamm vor sich hin döst. Seien es die historischen Klassiker Grizmek, Sielmann oder Dietmar Schönherr oder die weniger namhaften, aber dafür um so präsenteren aktuellen Vertreter des Genre: Filmische Expeditionen ins Tierreich dienen im grauen stressigen Alltag dem gehetzten, aber tierlieben Zuschauer für eine Dreiviertelstunde als Eintrittskarte in eine Welt, die es seit langem schon nicht mehr zu geben scheint. Schöne alte Welt, zwar auch mit Mord, Fressen und Gefressen werden, aber doch irgendwie heil und natürlich. Einfach zu schön, um wahr zu sein.


Bis man den Ton anstellt: Plötzlich stellt man fest, daß die Bilder aus der Wildnis eigentlich nicht die Hauptrolle spielen. Die Handlung ist eine andere. Und sie ist immer die gleiche. Am Anfang das einzelne Tier, wie es lebt, jagt und frißt, dann stößt ein weiteres Exemplar dazu, die nächste Szene ist die Balz, dicht gefolgt von der Paarung. Dann schlüpfen die Kleinen, während Mama und Papa Babynahrung herbeischaffen, aus klein wird groß, und schließlich ist der Zyklus beendet. Der Zuschauer, wohlig verzückt ob des niedlichen Nachwuchses und erleichtert, daß dieser nun erwachsen ist und mindestes drei Gefahren gemeistert hat, weiß nun, daß der Film zu Ende geht. Er weiß aber auch, was kommt. Denn nun geschieht, was leider aus Tierfilmen nicht wegzudenken ist: Die Tierexpedition erklärt uns abschließend den Menschen. Dazu aktiviert der Sprecher die spröden Stimmbänder, die Stimme wird klagend, es geht dem humorlosen Höhepunkt des Filmes entgegen - das Jammern schwillt an zum Klagelied, das Klagen wird zum Anklagen, und dessen immer wiederkehrender Refrain lautet:

„Wie lange werden wir solche Bilder noch sehen können? Wenn wir Menschen nicht bald begreifen, was wir an diesen Lebewesen haben, werden wir sie bald nur noch in Büchern finden... wenn wir nicht endlich begreifen, daß die Natur uns nicht braucht, wir aber sie, ist es nicht nur um diese ehrenhaften und friedliebenden Geschöpfe geschehen, sondern auch um uns...“


Diese Trauerarie taucht in den unterschiedlichsten Modulationen auf, mal mehr crescendo, mal forte, immer in Moll, mal klassisch, mal dumpf und beängstigend. Und plötzlich sind auch die Bilder nicht mehr schön, sondern reihen sich ein ins Gewimmer und legen den eigentlichen Sinn des Gezeigten frei: Elefantenstoßzähne, brennende Wälder, Touristen, Asphalttrassen, Krokodilledertaschen, Pelzmäntel, Jagdtrophäen, oder einfach nur dahingemetzelte Kadaver. Alles, was der interessierte Laienbiologe in den vorangegangenen 43 Minuten am Bildschirm interessiert zur Kenntnis nahm, ist verflogen. Statt dessen macht sich Weltschmerz breit, während der Sprecher zum letzten Paukenschlag ausholt:

„Es ist aber vielleicht auch nur das ewige Streben des Menschen, sein ewiger Fortschrittsdrang, der sich mit der Natur nicht in Einklang bringen läßt. Es ist die menschliche Zivilisation die einzig denkbare, die auf Zerstörung und Ausrottung aufbaut. Bald hat sie ihren Zweck erfüllt.“


Mißmutig verfolgt man den Abspann. Kein Tierfilm verfehlt heute mehr diese erzieherische Wirkung. Nicht ein einziger verzichtet auf den Schlußakkord des Grauens. Ganze Industrien hängen an diesen Klängen. Sie mobilisieren das spendable schlechte Gewissen. Grizmeks Erben haben Grund genug, sich noch in Jahrzehnten wie Geier um seinen Nachlaß zu streiten. Der alte greise Mann im Fernsehstudio mit dem Äffchen im Arm pflegte sogar noch die weniger direkte Variante: Oft fehlten ihm am Schluß einfach die bösen Worte, zu sehr hatte ihn das Äffchen zerzaust und mit ihm den Ernst der Schlußszenerie. Die heutige Selbstbeschuldigungspädagogik ist unausweichlicher. Der moralische Zeigefinger ist inzwischen so fest in die Köpfe implantiert, daß oft sogar ein unkommentiertes Standbild ausreicht, um den Sermon vor dem inneren Ohr ablaufen zu lassen. Ganze Generationen kennen es nicht anders. Das kleine Entlein im ausgetrockneten Wasserloch stirbt nicht, weil seine Zeit abgelaufen und der Sommer heiß ist, sondern weil wir Schuld tragen und daraus lernen sollen.

Es ist widerlich, bei Tierfilmen den Ton anzustellen. Doch ich tue es immer wieder in der Hoffnung, irgendwann einmal einen Film zu sehen, der mich nicht anklagt - auch wenn ich nicht weiß, von welchem Planeten der Produzent dieses Streifens kommen soll. Aber deshalb baue ich darauf, daß es neben den hiesigen, als Gutmenschen getarnten grünen Männchen noch irgendwo ein paar Un-Menschen gibt, die uns einfach nur mal zeigen, wie schnell lebendige Schnitzel laufen können.


(Novo39, März 1999)