Matthias Heitmann  Klartext

L – Luftholen

- Der Osten quarzt – die Mauer als Nichtraucherschutzwall


Ausgerechnet die ostdeutschen Frauen, gefeiert als die stillen Heldinnen der „großen Novemberrevolution“, gelten zehn Jahre nach dem Fall der Mauer als Verräterinnen der deutschen Einheit. Nicht, dass sie nun genug an der Freiheit geschnuppert hätten, im Gegenteil, sie können vom Inhalieren nicht genug bekommen: Das Robert-Koch-Institut hat einen drastischen Anstieg der Zahl ostdeutscher Raucherinnen festgestellt. Dies kommt einer Kampfansage an das vereinigte gesundheitsbewußte Deutschland gleich. Während sich 1991 noch 79 Prozent ostdeutscher Frauen mit dem Atmen der Freiheit zufrieden waren, sind es nun nur noch 71 Prozent, die dies ohne zusätzliche Nikotinzufuhr ertragen wollen und können. Während die Westdeutschen beider Geschlechter immer mehr auf das reine, geschmacksneutrale und hochwertig-flache Nachhaltigkeitsatmen einschwenken und der Anteil der Raucher seit Jahren rückläufig ist, wird im Osten das Rauchen zunehmend zu einer Identitätssache: Marlboro Lights und West sind megaout, „Karo“ und „Cabinett“-Zigaretten machen das Luftholen zu einem nostalgischen Akt, ähnlich wie Klub-Kolatrinken, Trabifahren und PDS-Wählen.


Von Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West ist also am Ende des Jahrtausends keine Spur. Einige Bundestagsabgeordnete sind sich jedoch der Gefahr für das (noch) vereinigte Deutschland bewußt: Gegenmaßnahmen werden geplant, freilich ohne den Ost-West-Charakter des Problems öffentlich heraufzubeschwören. Dennoch ist man sich insgeheim darüber einig, die gesundheitsbewussten westdeutschen Lungen vor ostdeutschen Marotten schützen zu wollen. Präsentiert werden die Maßnahmen als „verbesserter Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz“. Nur ungern sprechen die aufgeklärten Parlamentarier im Jahr Zehn nach dem Ende der deutschen Teilung in diesem Zusammenhang von dem Entstehen einer neuen Mauer. Es würden ja keine neuen Mauern errichtet, sondern lediglich die alten systematisch genutzt, heißt es. Und in der Tat: Schon heute verleben viele Anhänger der ostdeutschen Kultbewegung einen großen Teil ihres Arbeitstages – so vorhanden – außerhalb der Gemäuer, im Freien.

Einen qualitativ neuen Schritt stellt die Forderung besagter Abgeordneter dar, ostdeutsche Raucher und westdeutsche Nichtraucher in getrennten Schichten im Betrieb arbeiten zu lassen. Neben längeren Maschinenlaufzeiten durch regelmäßigen Schichtbetrieb werden auch die gesellschaftlichen und kulturellen Vorteile dieses Modells betont. Auch für das gemeine Volksempfinden könnte eine solche Regelung von großem Nutzen sein: die innere Einheit vollenden bei gleichzeitiger völliger Abschottung von Ost und West. Auch politischen Überraschungen könnten somit mittels eingeschränkter Öffnungszeiten von Wahllokalen („Nichtraucher-Tagschicht-Wahllokale“) vorgebeugt werden. Die Vorstellung der zeitlichen Trennung bei räumlicher Einheit ist nach ersten Umfragen mehrheitsfähig: Einer Befragung des RTL-Mittagsjournals „Punkt 12“ zufolge bekannten sich kürzlich 43,8 Prozent der Deutschen für eine dauerhafte Trennung von Rauchern und Nichtrauchern am Arbeitsplatz. Ob diese allerdings ausgerechnet einen Zigarre rauchenden Kanzler wiederwählen, bleibt offen. Richtig bleibt nur eins: Immer schön einatmen und ausatmen, einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen...


(Novo43, November 1999)